Polivka hat einen Traum (German Edition)
ist zu laut, als dass er etwas anderes hören könnte. Polivka wird zusehends von Panik übermannt, er ringt nach Luft: ein jämmerliches Stück geknebelte Verzweiflung.
Dann aber setzt sein Herzschlag einen Augenblick lang aus: Ein kurzes, jähes Knirschen dringt an seine Ohren, und die Hecktüren des Wagens schwingen auf.
Der Mann, der aus dem Mondlicht auf die Ladefläche steigt, ist schlank und hoch gewachsen; rötlich braun glänzt seine militärisch kurz geschnittene Frisur. Seine Bewegungen sind sparsam und geschmeidig, ähnlich denen mancher giftiger Insekten. Eine menschliche Ameise …
Ohne Polivka eines Blickes zu würdigen, kniet er sich vor Sophie. Er beugt sich über sie, legt ihr zwei Finger an die Halsschlagader, wischt ihr dann mit einer Hand das Blut aus dem Gesicht.
«Hervé …», ächzt Polivka.
Der andere zeigt keine Reaktion.
Hervé ist schwerhörig, entsinnt sich Polivka; Sophie hat ja von der Granatenexplosion erzählt, die ihrem Bruder in Afghanistan ein Trommelfell zerrissen hat.
«Hervé Lavoix!», probiert er es noch einmal, und jetzt wendet sich der andere endlich um.
Der Anblick ist erschütternd.
Polivka weiß nicht, was er erwartet hat. Vielleicht die glatte Stirn Sophies, ihr ebenmäßiges Gesicht und ihre wachen Bernsteinaugen? Oder doch die hämisch-kalte Fratze, die man – wider besseres Wissen – generell bei gnadenlosen Mördern vorzufinden glaubt?
In keinem Fall jedoch hat er damit gerechnet, dass ihm ein verhärmter, welker Mann entgegenblickt, der nicht wie ein Gewaltverbrecher, sondern wie der Tod persönlich aussieht. Er erinnert Polivka an alte Birkenrinde, blass und brüchig und zerfurcht; vom aufgeweckten und verspielten Buben, den Sophie ihm vorgestern beschrieben hat, kann keine Rede sein. Wären da nicht seine Haarfarbe und seine Körperhaltung – wie Sophie, wenn sie gerade in Gedanken ist, hält er den Kopf ein wenig schief –, Polivka würde ihn im Leben nicht für ihren Zwillingsbruder halten.
Nicht im Leben …
Leblos liegt sie da, und zwischen ihnen kniet der Tod.
In Polivka wallt wieder Panik hoch. Der Zorn hat längst den Schmerz besiegt, jetzt siegt die Angst gegen den Zorn. «Was ist mit ihr?» Ein ungewolltes Flehen schwingt in seiner Stimme mit. «Ist sie …?»
Hervé mustert ihn stumm. Wie nebenher ballt er die linke Hand, holt aus und – zögert. Er verharrt für einen Augenblick mit erhobener Faust und lässt den Arm dann wieder sinken.
«Non. Elle n’est pas morte. Sie ist nicht tot, sie ist nur, wie sagt man … unbewusst.» Hervé klingt überraschend sanft und leise; vielleicht liegt das ja an seinem ausgeprägten französischen Akzent, der Polivka an Charles Aznavour erinnert. «Wenn sie wäre tot, man müsste sie nicht binden.»
Jetzt erst fallen Polivka die hellen Streifen auf, die sich um Sophies Knöchel winden: silberfarbenes Klebeband. Er hätte nicht gedacht, dass es ihn einmal so erleichtern würde, sie in Fesseln zu sehen.
«Aber Sie, Monsieur Polivka», spricht Hervé nun weiter, «werden tot sein. Bald. Ich werde froh sein, das zu machen. Ohne Sie», er deutet auf Sophie, «das alles wäre nicht geschehen.»
«Ohne mich?» Polivka weiß nicht, ob er schreien oder lachen soll. «Ich kann mich nicht erinnern, Ihre Schwester bewusstlos geprügelt zu haben. Das scheint doch eher Ihr Spezialgebiet zu sein, Monsieur Lavoix.»
«Ich bin das nicht gewesen. Ich war das hier.» Unsanft schlägt Hervé mit der Hand auf Polivkas Schläfe. Die Schmerzen im Hinterkopf, gerade etwas abgeklungen, flammen wieder auf. «Ein kleiner Beule, weiter nichts.»
«Natürlich nicht», stöhnt Polivka. «Drei unschuldige Tote zählen ja nicht, und mein Kollege, dem Sie einfach so ein Auge ausgeschlagen haben, ist genauso eine Bagatelle wie die Schüsse auf Sophie und mich.»
«Non, non, Monsieur Polivka. Die Aktion in Brüssel war von meine Kameraden. Ich war gar nicht da, ich war noch auf der Reise von Paris, weil in der Nähe hatte ich ein accident , ein Unfall mit dem Motorrad, vielleicht erinnern Sie.»
«Und trotzdem haben Sie Gallagher und Ihre Mordkumpane auf Sophie gehetzt!»
Hervé neigt seinen Kopf zur Seite und verfällt in Schweigen. Erst nach einer Weile sagt er nachdenklich: «Ich liebe meine Schwester, Monsieur Polivka, aber ich bin Soldat. Zuerst Soldat, und dann erst Bruder. Gallagher in Brüssel weiß das. Sonst er hätte mich nicht mit nach Wien geschickt zu lösen der Problem. Also, wo ist der Film?»
Jacques’
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