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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Video, denkt Polivka. Blitzartig dringt ihm ins Bewusstsein, dass Sophie und er bei ihrem turbulenten Abgang aus dem Kommissariat die Speicherkarte nicht an sich genommen haben; sie muss immer noch im Polizeicomputer stecken.
    «Der Film», gibt er zurück, «befindet sich an einem sicheren Ort, wie man zu sagen pflegt. Sie können mich natürlich auch durchsuchen, aber finden werden Sie nichts. Im Übrigen bin ich ein wenig – kitzelig.»
    «Ich werde Sie durchsuchen, wenn Sie nicht mehr kitzlig sind.» Mit einem kühlen Lächeln ballt Hervé ein weiteres Mal die Hand zur Faust. Er spricht jetzt so verhalten, dass ihn Polivka fast nicht verstehen kann: «Jacques war ein Idiot. Und Sie sind auch ein Idiot. Und Ihr Kollege ist ein Idiot. Wenn er mir diese Violine gegeben hätte, in Méru, man hätte alles lösen können.»
    «Lauter Idioten also. Nur Monsieur Lavoix, der große Held, der durch Europa zieht, um irgendwelchen ahnungslosen Leuten das Genick zu brechen, und der sich zu allem Überfluss vom Exmann seiner Schwester dabei filmen lässt, ist ein Genie. Erklären Sie es doch bitte einem Idioten: Warum tun Sie das? Wozu?»
    «Das ist …», Hervé verzieht geringschätzig den Mund, «kein Frage. Nicht für ein Soldat. Man hat Befehle und gehorcht …»
    «Und man kassiert», fügt Polivka hinzu.
    «C’est vrai. Wir werden gut bezahlt.»
    «Und Ihr Gewissen? Kennen Sie das Wort: Gewissen ?»
    «Es gibt Sieger und Verlierer. Das ist alles. Warum soll ich ein Verlierer sein, nur weil ich habe ein Gewissen?»
    Drohend schwebt Hervés geballte Faust vor Polivkas Gesicht, und plötzlich dringen durch die halb geschlossenen Türen zwei Männerstimmen in das Wageninnere:
    «Hervé? What’s up in there?»
    «Komm raus, Mann!»
    «We are done, wir … haben fertig hier!»
    «Lass uns was übrig von der Kleinen!»
    Gegenüber, auf der Ladefläche, regt sich etwas. Eine winzige Bewegung nur: Sophie schlägt die Augen auf.
    Hervé aber schlägt zu.

22
    Polivka erwacht in einer kühlen Brise, auf den Lippen frischen Salzgeschmack. Er atmet ruhig und lauscht der Brandung seiner Schmerzen. Grillen zirpen. Etwas Kleines krabbelt seinen Hals hinauf, erklimmt den Kiefer und bewegt sich leichtfüßig in Richtung Mund. Wahrscheinlich eine Ameise.
    Er bläst sie fort und blinzelt in den Himmel.
    Polivka sieht Sterne.
    Über sich den Großen und den Kleinen Wagen und die Kassiopeia.
    Neben sich Sophie. Auf ihren Wangen glitzern Tränen.
    «Musst … nicht weinen …» Selbst das Flüstern fällt ihm schwer. Er tastet mit der Zungenspitze über seine Schneidezähne – einer fehlt. «Das lässt … sich reparieren.»
    Sophie will etwas sagen, ringt um Worte, wendet sich dann schweigend ab. Man müsste seine Hände frei haben, denkt Polivka, um sie zu trösten.
    «Und was macht … dein Kopf?»
    Die Antwort kommt sehr spät, sehr leise. «Eine Platzwunde wahrscheinlich. Es ist halb so schlimm … Das wirklich Schlimme war … Ich habe schon geglaubt, du bist …»
    «Ich auch, Sophie. Vorhin, im Wagen.»
    Aus der Ferne hört man jetzt die dumpfen Schläge einer Kirchenglocke. Es ist elf.
    «Das alles», sagt Sophie, «war er . Mein Bruder.»
    «Nein. Er hat nur mich …»
    «Er hat uns beide ausgeliefert.»
    «Noch sind wir am Leben.»
    Rundum tanzt das Gras im lauen Wind, der Mond scheint auf die Felder und die sanften Hügel. Ein, zwei Kilometer weiter drehen sich behäbig die gigantischen Rotoren eines Windparks. Polivka hat keinen Zweifel: Sie befinden sich im Weinviertel, abseits der Straße zwischen Mistelbach und Poysdorf, keine Viertelstunde von Schloss Stadlwald entfernt.
    Er fragt sich, wo Gallaghers Männer sind. Vermutlich beim Auto, das – man kann es an den fahl erhellten Scheiben sehen – auf einem Feldweg etwa fünfzig Meter abseits parkt.
    «Vielleicht», raunt Polivka, «kann ich dein Klebeband mit meinen Zähnen lösen.»
    «Aber deine Zähne …»
    «Siebenundzwanzig hab ich noch, das dürfte reichen. Ich versuche einmal, auf die Knie zu kommen.» Kurz entschlossen presst er seine Arme in die feuchte Erde, stößt sich ab und wälzt sich auf die Seite, weiter auf den Bauch. Den Kopf am Boden, winkelt er die Beine an und zieht, so weit es geht, die Knie zur Brust. Mit Schwung drückt er die Stirn noch vorn … Sein Körper schwingt nach hinten, schlingert, schwankt – und findet endlich doch das Gleichgewicht.
    «Geschafft. Und jetzt …»
    Mehr sagt er nicht. Er kniet nur da und starrt auf einen Erdhaufen, in

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