Polivka hat einen Traum (German Edition)
im Schützengraben. Als der Kugelhagel kurz darauf ein Ende findet und Hervés Pistole nur noch ein paar hohle Klickgeräusche von sich gibt, dringt ein zufriedenes Lachen aus der Grube. Siegessicher richtet sich der Blonde auf.
Der Fleck auf Hervés Hemd hat sich inzwischen ausgedehnt, er ist auf Tellergröße angewachsen.
«Pardonne-moi …» Mehr als ein leises Stöhnen ist es nicht, und doch kann Polivka es hören. «Pardonne-moi, ma sœur.»
Der Blonde grinst. Er hebt den Arm und richtet seine Waffe auf Hervé. In seinem Rücken steigt ein Lichtreflex zum Himmel, nimmt dort wie von Zauberhand den Umriss eines Spatenblattes an und kracht auf seinen Schädel nieder.
Das metallische Geräusch klingt lange nach: ein heller, leicht vibrierender Gesang. Noch ehe er verhallt ist, sackt der Blonde, eine ungestellte Frage auf den Lippen, in sein Grab.
«Wo Elefanten sich bekämpfen, hat das Gras den Schaden.» Doktor Rakesh Singh nickt Polivka bedauernd zu. Er rammt den Spaten wieder in den Erdwall, bückt sich nach dem schwarzen Arztkoffer zu seinen Füßen und begibt sich, Polivka ein weißes Lächeln schenkend, zu Hervé.
23
«Leider, Herr Bezirksinspektor.» Singh zuckt mit den Achseln, während Polivka den Blick hinüber zu den Gräbern wandern lässt, hinüber zu Sophie, die dort am Boden sitzt und ihren Bruder in den Armen hält. «Da ist nichts mehr zu machen: seine Bauchschlagader. Bis wir ihn ins Krankenhaus verfrachtet haben, ist er längst verblutet. Mehr als fünf Minuten gebe ich ihm nicht, bei aller ärztlichen Zurückhaltung. Man kann ihn nur noch Abschied nehmen lassen.»
«Und … die beiden anderen?»
«Der Schwarzhaarige», Singh deutet nach links, «hat einen glatten Herzschuss abbekommen. Knapp am achten Brustwirbel vorbei und in die linke Herzkammer. Präzise Leistung.» Singh macht eine kurze Pause, zeigt dann auf das rechte Grab und setzt eine zerknirschte Miene auf: «Der Blonde hat es auch nicht überlebt. Soweit ich durch die Platzwunde an seinem Hinterkopf erkennen konnte, hat er an der Schädelbasis eine Längsfraktur erlitten. Ich bin offenbar ein bisschen aus der Übung, und ein Spaten ist kein …»
«Wie, ein bisschen aus der Übung?»
«Nun … Als ich ein junger Mann war, seinerzeit in Rajasthan, da habe ich mich eine Zeitlang in den klassischen, von meinen Ahnen tradierten Kampfkünsten versucht. Sie müssen wissen, dass ich der erhabenen Kriegerkaste der Rajputen entstamme, bei denen der Umgang mit traditionellen Waffen immer schon ein Teil der Brauchtumspflege war. Am liebsten habe ich damals mit dem Gorz trainiert, das ist ein schlanker Streitkolben mit einem stahlklingenbesetzten Schlagkopf. Aber wie ich eben sagen wollte: So ein Spaten ist kein Gorz; es ist mir nicht gelungen, sein Gewicht mit einer adäquaten Drosselung der Schlagkraft auszugleichen, daher: Exitus.»
«Wir werden keinen Richter brauchen, Doktor Singh», sagt Polivka. Noch immer fühlt er diese Mischung aus Entsetzen, Schock und Todesangst, noch immer drücken dicke Tränen gegen seine Augen, und wenn Singh nicht so ein wackerer Rajputenkrieger wäre, würde er ihm jetzt aus lauter Dankbarkeit die Wangen küssen. «Wie haben Sie uns eigentlich gefunden?», fragt er den Doktor stattdessen.
«Nun, ich bin gerade in die Fürstengasse eingebogen, als die drei Ganoven Madame Guillemain und Sie in dieses Lastauto verfrachtet haben. Also habe ich natürlich die Verfolgung aufgenommen. Innerhalb der Wiener Stadtgrenzen war das ein Kinderspiel. Die vielen Ampeln, das gesteigerte Verkehrsaufkommen: kein Problem für meinen Wagen, mit den Gaunern Schritt zu halten. Aber dann sind sie die Brünner Straße nach Norden gebraust. Zum Glück haben sie die neue Autobahn vermieden, höchstwahrscheinlich, um den häufigeren Polizeikontrollen zu entgehen. Natürlich sind sie mir auch so davongefahren, aber bei gemäßigter Geschwindigkeit kann man die Augen besser offen halten.»
«Gute Augen haben Sie.»
«Das schulde ich meinem Namen, Herr Bezirksinspektor. Rakesh bedeutet im Indischen König der Nacht . Bei der Abfahrt nach Mistelbach jedenfalls fürchtete ich schon, ich hätte Sie verloren. Ich bin dann noch weiter bis Poysdorf, habe dort gewendet, bin die Strecke noch einmal zurückgefahren und war im Begriff, die Suche abzubrechen, als ich plötzlich abseits der Straße dieses Licht gesehen habe: die Fenster eines Kleinbusses, die Armaturenbeleuchtung. Also habe ich meinen Wagen abgestellt und mich nach Art der
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