Polivka hat einen Traum (German Edition)
zwei Menschen vor dem Tode zu bewahren, eine völlig andere. Singh habe weiß Gott genug getan, sein Karma werde ihm, wenn nicht in diesem, so im nächsten Leben überreiches Glück bescheren.
«Ein anständiger Wagen würde mir schon reichen», erwiderte Doktor Singh. «Und auf das Achtel will ich auch nicht bis zum nächsten Leben warten. Abgesehen davon, dass Sie, wenn ich recht verstehe, keinen Cent mehr in der Tasche haben. Jemand muss die Zeche zahlen, und dieser Jemand hat den größten Durst.» Mit diesen Worten nahm er am Volant des Kastenwagens Platz und bedeutete Sophie und Polivka, sich neben ihn zu setzen.
Sie rumpelten zur Bundesstraße, um – kurz vor der Einmündung – ein kleines neongelbes Ding mit Rädern zu passieren, das dort am Rand des Feldwegs stand.
«Mein Tata », sagte Singh mit einem leicht verzagten Achselzucken. «In Indien kostet er zweitausend Euro: das günstigste Auto der Welt, solange man keine Verfolgungsjagden damit unternehmen muss.»
Nach fünf Minuten hatten sie Poysdorf erreicht, doch statt den Wagen vor einem der wenigen um diese Uhrzeit noch beleuchteten Gasthäuser zu parken, bog der Doktor ab und fuhr durch eine Seitengasse nach Nordosten.
«Wohin wollen Sie denn?», stieß Polivka hervor. «Ich hoffe, nicht nach Stadlwald – für heut hab ich genug von dieser Brut!»
Schon lag die Stadt in ihrem Rücken, und sie tauchten in die dunkle, abgeschiedene Hügellandschaft des Weinviertler Grenzlandes ein.
«Nur keine Angst», lächelte Singh. «Wir fahren zum besten Achtel hier im Viertel.»
Wie der Doktor nun berichtete, war er ein Freund des herben Weins und daher ein begeisterter Besucher dieser Gegend, die er als den ungeschliffenen Koh-i-Noor unter den (an Juwelen durchaus nicht armen) österreichischen Weinbaugebieten bezeichnete. Auf einem seiner Ausflüge war er vor sechs Jahren in dem unscheinbaren Dorf Herrnbaumgarten gestrandet, das sich zwei Kilometer südlich der Oppitz’schen Ländereien befand. Schon in der Ortseinfahrt waren ihm die kuriosen mehrsprachigen Schilder aufgefallen, die rechts neben der Straße standen. Offenbar in Anspielung auf den jahrzehntelangen Kärntner Streit um deutsch–slowenische Ortstafeln fanden sich hier türkische, russische, chinesische und isländische Übersetzungen des Namens Herrnbaumgarten . Auch das englische Master’s tree garden fehlte nicht, im Gegensatz zur indischen Bezeichnung, wie Singh bedauernd feststellen musste. Die Enttäuschung hielt aber nicht lange an, denn schon zog etwas anderes sein Augenmerk auf sich: eine rot-weiß-rot gestrichene Parkbank, auf der – selbst aus dem Auto gut erkennbar – die Beschriftung Österreichische Nationalbank angebracht war.
Die Seltsamkeiten mehrten sich, das ganze Ortsbild schien von marginalen anarchistisch anmutenden Spuren durchsetzt zu sein, die Singh an sogenannte Gaunerzinken denken ließen, also an Geheimsymbole subversiver Krimineller.
Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen, und nahm im Dorfwirtshaus ein Zimmer. Es war früher Nachmittag, und Singh war hungrig, also setzte er sich in die leere Gaststube und bat die Wirtin um ein Achtel Wein und eine Portion Cremespinat mit Spiegelei, so wie sie in der Jausenkarte angeboten wurde. Wenig später starrte er auf einen runden Teller, der von einem senkrecht auf das Porzellan geklebten Spiegel in zwei Kreishälften geteilt wurde. Auf der dem Doktor zugewandten Seite steckte ein noch ungeschältes, hart gekochtes Ei in einem Klecks Spinat. Das Spiegelbild verdoppelte die mickrige Portion zu einer optisch ausreichenden Mahlzeit und verwandelte zudem das hart gekochte Ei in ein – zumindest polysemantisches – Spiegelei.
Wie Singh schon bald herausfand, war der Ort Herrnbaumgarten ein merkwürdiges Mittelding aus Schilda und gallischem Dorf, die Eingeborenen entpuppten sich als lebensfrohe, trinkfeste, bisweilen ruppige, zumeist aber charmante Querköpfe. Indem sie ihr – durchaus pointiertes – Narrentum kultivierten, trotzten sie den Unbilden des harten bäuerlichen Grenzlandlebens. So begnügten sie sich auch in ihrem Festkalender nicht mit altbekannten folkloristischen Belustigungen (Blasmusikkonzerte, Jahr- und Bauernmärkte, Maibaumkraxeln und so weiter), sondern führten ständig neue Bräuche ein. Das Vierundzwanzig-Stunden-Weinbergschneckenrennen beispielsweise, das von den (kurzfristig rekrutierten) Rennschnecken und von den (lange ausharrenden) Zuschauern nur unter reichlicher und oftmaliger
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