Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
Vorväter herangeschlichen.»
    «Gott sei Dank sind Sie Rajpute.»
    «Gegen unsere Wüste Thar ist so ein Rapsfeld wie ein Billardtisch gegen einen Golfplatz.»
    «Aha», sagt Polivka. Er denkt noch über Doktor Singhs kuriose Worte nach, als sich beim Hügel zwischen den zwei Gräbern etwas rührt. Sophie lässt ihren Bruder auf den Boden gleiten, beugt sich über ihn und drückt ihm sanft die Lippen auf die Stirn. Dann steht sie auf und kommt mit unsicherem Schritt zu Polivka und Singh herüber. Ihr Gesicht, das schmal und grau im Mondlicht schimmert, ähnelt jetzt erst wirklich jenem von Hervé, wie Polivka erschüttert feststellt. So gern würde er sie in die Arme nehmen, sie umfangen, halten, trösten, doch er zögert: Hat ein alter, schwacher Mann, den sie erst seit vier Tagen kennt, denn überhaupt die Macht, ihr angesichts des Todes ihres Bruders Trost zu spenden? Kann sie seine Zuwendung, seine Berührung überhaupt ertragen, jetzt, nachdem man sie um Haaresbreite vergewaltigt hat? Er konnte ihr nicht helfen, konnte sie vor all dem Grauen nicht bewahren, ist nur dagelegen, nutzlos und verzweifelt.
    Helden sehen anders aus.
    Sophie bleibt stehen und starrt an ihm vorbei ins Leere. Nach gut zehn Sekunden erst hebt sie den Kopf und sieht ihn an. «Wie geht es dir?», fragt sie ganz leise.
    Unmöglich, seine Tränen noch zurückzuhalten. Wie der Saft aus einer überreifen Frucht quellen sie aus ihm hervor und strömen über seine Wangen. Polivka schluchzt auf, er bebt am ganzen Körper.
    Und Sophie schließt ihn behutsam in die Arme.

    Drei Führerscheine und drei Telefone liegen auf dem Tisch im Presshaus, und drei Augenpaare starren auf das mittlere der Handys, das gleich einem umgekippten Mistkäfer über die Tischplatte tanzt. Auf seinem giftgrünen Display leuchtet ein Schriftzug auf.
    «Gallagher», sagt Polivka. «Ich hoffe, ich kriege das hin.» Er betrachtet noch einmal den mittleren Führerschein, auf dem das Bild des toten Schwarzhaarigen klebt. Dann greift er nach dem Handy, um den Anruf anzunehmen.
    Es ist ein Uhr zwanzig.

    Eine ganze Weile sind Sophie und er so dagestanden, eng umschlungen, einer in den anderen versunken, während Doktor Singh diskret den Rückzug antrat. Er ging wieder zu Hervé, um sich – gewissermaßen amtlich – seines Ablebens zu vergewissern, stieg dann in die Gräber, nahm den Toten ihre Waffen, Ausweise und Telefone ab und deponierte sie – fein säuberlich getrennt – in seinem Arztkoffer.
    «Was machen Sie da?» Polivka war zu ihm getreten, partiell beunruhigt, aber insgesamt ein wenig aufgemuntert.
    «Ordnung», erwiderte der Doktor.
    «Wäre das nicht … Sache der Behörden?»
    «Die Behörden sind schon da», gab Singh zurück.
    «Im Ernst, wir müssen doch …»
    «Wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Bezirksinspektor», unterbrach der Doktor, «ist die Angelegenheit noch nicht erledigt. Wer viel spricht, hat keine Zeit zum Denken, pflegen wir in Indien zu sagen. Wollen Sie die nächsten Tage wirklich mit Befragungen und Protokollen verbringen?»
    «Nein.»
    «Dann helfen Sie mir bitte. Wenn der Bruder von Madame Guillemain auch alles andere als ein Lämmchen war, hat er es letztlich nicht verdient, sein Lager mit den Wölfen teilen zu müssen.»
    Also hoben sie den toten Blonden mit vereinten Kräften aus dem rechten Grab und zerrten ihn nach links, zu seinem schwarzhaarigen Kameraden. Als die eine Leiche auf die andere sackte, war ein leises Furzgeräusch zu hören.
    «Wieder so ein Vata-Typ», meinte Polivka trocken.
    «Bravo, Herr Bezirksinspektor, rasch gelernt.»
    Sie hievten Hervé in die leere Grube und begannen, ihn mit Erde zu bedecken.
    Auch Sophie kam nun herbei. Sie hatte sich mit einer Flasche Mineralwasser aus Singhs Beständen das Gesicht gewaschen, jetzt sah sie der Szene schweigend zu. Erst als die Männer beide Gräber zugeschaufelt hatten, sagte sie ein leises: «Danke.»
    Es war kurz vor Mitternacht, und Polivka schlug vor, im nahen Poysdorf nach einem geöffneten Lokal zu suchen, um sich bei einem Achtel Wein (tatsächlich hatte er ein Achtel Schnaps im Sinn) und einem Imbiss (seit dem Flug am Nachmittag hatten Sophie und er nichts mehr gegessen) von den Vorfällen zu erholen. Dem Doktor freilich legte er ans Herz, nach Wien zurückzufahren, sei er doch in diese grauenhafte Odyssee hineingeschlittert wie die sprichwörtliche Jungfrau in die unbefleckte Schwangerschaft. Sein Auto herzuleihen, sei eine Sache, einen Mann zu töten und

Weitere Kostenlose Bücher