Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
Flüssigkeitszufuhr bewältigt werden konnte. Oder den an feiner Poesie kaum überbietbaren Nachtwandertag: Zu diesem meist an einem lauen Sommerabend stattfindenden Anlass zogen die mit Schlafröcken und Nachthemden bekleideten Herrnbaumgartner von Hof zu Hof, um sich mit Wein und Gutenachtgeschichten in den Schlaf wiegen zu lassen.
    Unweit des Gasthauses stand ein alter, malerischer Winzerhof, der einem Mann gehörte, wie ihn wohl nur diese Gegend formen konnte, nämlich dem Weinbauern, Heurigenwirten und Bildhauer Ottfried Gutmaisch. Neben all der Arbeit, die er ohnehin schon zu verrichten hatte, werkte Gutmaisch auch als Tiefbaumeister: Seit Jahrzehnten kaufte er die ausgedienten, oftmals ungenutzten Kellerröhren an, die unter der Ortschaft verliefen, und verband sie zu einem immensen unterirdischen Gewebe. Die zahllosen Höhlen und Treppen, Winkel und Gänge baute er mit Lehm und Ziegeln zu geradezu okkulten mittelalterlichen Weihestätten aus. Das Kellerlabyrinth des Ottfried Gutmaisch war inzwischen – ähnlich einem jener unsichtbaren, angeblich hektargroßen Pilzgeflechte – derart angewachsen, dass man tatsächlich Gefahr lief, sich in seinen Tiefen heillos zu verirren. Verdursten konnte man dort unten freilich nicht: Aus Hunderten in die Gewölbe gemauerten Nischen blitzten einem Myriaden gut gefüllter Weinflaschen entgegen. Dessen ungeachtet pflegte Gutmaisch seinen Gästen ein Skelett zu präsentieren, das er, wie er fest behauptete, vor Jahren bei seinen Grabungen entdeckt habe. Es waren die Knochen einer mittelgroßen Ente, deren erster Halswirbel mit einem zusätzlichen Kopf versehen war: zweifellos historische Gebeine, nämlich die des 1918 ausgestorbenen Habsburger Doppeladlers.
    Als der Pathologe Singh die Vogelknochen untersuchte, um nach Abschluss seiner Analyse feierlich zu konstatieren, es handle sich hier in der Tat um das Gerippe eines Exemplars der Gattung aquila duplex vulgaris , also des gemeinen Doppeladlers, legte er den Grundstein für seine inzwischen langjährige Freundschaft mit dem sonderlichen Winzer. Einer Freundschaft, die nun auch Sophie und Polivka zugutekommen sollte.
    Kaum war Singh mit seiner Schilderung am Ende, tauchten schon die vielsprachigen Schilder aus der Dunkelheit, und ein paar hundert Meter weiter erfassten die Scheinwerferkegel das kalkweiße Gehöft des Ottfried Gutmaisch. Dem Wagen entstiegen, traten die drei durch ein mächtiges Holztor in den Vierkanthof. Polivka konnte den großen, arkadenumsäumten, mit Bäumen und Blumen bewachsenen Garten nur erahnen, wurden dessen Schemen doch von einem schmalen, warmen Lichtstrahl übertönt, der aus einer der hinteren Ecken des Gebäudes drang.
    «Das Presshaus», sagte Singh.
    Ein schummriger, mit Holztischen möblierter Raum, über den sich – gleich einem Himmel aus Eiche – der Kelterbaum einer gewaltigen Weinpresse spannte. Links eine Schank, mit Dutzenden Gläsern und Flaschen bedeckt. Dahinter ein kleiner und drahtiger, rund sechzigjähriger Mann mit runden, schalkhaften Augen, äußerst hoher Stirn und grauem Vollbart: Ottfried Gutmaisch.
    «Ja schau, der Herr Doktor!» Mit einem breiten Lächeln hinkte Gutmaisch hinter der Budel hervor, um seine Gäste zu begrüßen.
    «Wieder Probleme?», fragte Singh und deutete auf Gutmaischs leicht gekrümmte Beine.
    «Ja, das Knie vom rechten Hax», gab der zurück. «Links hab ich eh schon eines aus Titan, und demnächst steht im Krankenhaus der nächste Schnitzkurs an. Wenn du mich einmal auf den Tisch bekommst, Rakesh, kannst du mich mit dem Schweißbrenner sezieren. Dann bin ich so was wie der Ironman des Weinviertels.» Schmunzelnd wies er zum Stammtisch gleich unter dem Balken der Weinpresse. «Jetzt setzts euch einmal hin, ich schau gleich, ob sich noch ein Flascherl im Keller findet. Hunger?»
    Nach nur fünf Minuten hatte Gutmaisch eine mächtige, mit Schinken, Wurst und Speck, diversen Aufstrichen und Käsesorten, Eiern, Zwiebeln, Paprika und Gurken versehene Platte auf den Tisch gezaubert. Dazu ein paar Bouteillen Weißwein verschiedener Sorten und Jahrgänge: die Grundausstattung hier im Presshaus, wie der Doktor mit dem Stolz des Routiniers vermerkte. Extras stellten nur die sieben Flaschen selbst gebrannter Trebernschnäpse dar, deren Verkostung Polivka sogleich in Angriff nahm.
    Gesättigt und vom ersten Alkohol entkrampft, wandte sich die Gesellschaft den Problemen zu, die es zu lösen galt. Trotz aller Dankbarkeit (und trotz des Umstands, dass er

Weitere Kostenlose Bücher