Polivka hat einen Traum (German Edition)
zwanzigste Jahrhundert noch ganze verarmte Familien gewohnt. Die Ortsgemeinde hat ihnen gestattet, ihre Höhlen hier zu graben, um ein Dach über dem Kopf zu haben.»
«Furchtbar.»
«Aber mietfrei. Und klimatisiert, aufgrund der Erdwärme. Ich glaube, es gibt momentan Millionen Menschen auf der Welt, die sich um eine Höhle in der Schindergasse reißen würden.»
«Vielleicht hast du recht. Null Burenwürste für ein Eigenheim, um es mit deinen Worten auszudrücken. Trotzdem ist es irgendwie … anachronistisch.»
«Ja. Anachronistisch und archaisch. Wie der Stoff, aus dem die Märchen sind.»
Sie gehen weiter, steigen die Gasse bergan, die mittlerweile steil nach oben führt.
«Ich möchte dich um etwas bitten», sagt Polivka nach einer Weile.
«Ja?»
«Bleib ruhig, wenn du dem Oppitz gegenüberstehst. Lass dich nicht mitreißen von deiner Wut.»
«Du meinst, so wie vorhin am Telefon?»
«Genau.»
Sophie verzieht den Mund zu einem Lächeln. «Dass ich ihm so grob gekommen bin, war meine volle Absicht, Polivka. Ich wollte dir die Drecksau in die Arme treiben: guter Bulle, böser Bulle, wie im Fernsehen. Und den bösen Bullen nimmt man dir nicht halb so ab wie mir.»
«Verstehe.» Polivka ist nicht ganz sicher, ob ihm diese Einschätzung seiner Person gefällt, beschließt dann aber, sie als Kompliment zu werten. «Umso besser. Hast du eigentlich das zweite Handy noch, das wir am Brüsseler Flughafen gekauft haben?»
Sie zieht das Telefon heraus und reicht es ihm. «Ich habe es noch gar nicht eingeschaltet.»
«Gut …» Er tippt versunken auf der Tastatur herum. «Ah, ja, da ist es: Sprachaufnahme. Damit nehmen wir das Treffen auf, und mit ein bisschen Glück …»
«Ich dachte eher an eine Pistole als an ein Diktiergerät.»
«Du bist ja auch der böse Bulle.» Polivka steckt das Handy ein und nimmt Sophie behutsam bei den Händen. «Ganz im Ernst: Was Grabenkämpfe anbelangt, da hat der Oppitz einfach mehr Erfahrung. Seine Leute reißen uns den Arsch auf, wenn wir’s mit Gewalt versuchen. Einmal abgesehen vom Staatsanwalt, falls uns der überhaupt noch lebend in die Finger kriegen würde. Erstens haben wir de facto nichts, aber auch gar nichts gegen Oppitz in der Hand, und zweitens haben wir nur die Pistolen von gestern Nacht. Drei Waffen, auf drei Tote registriert, die wir da draußen irgendwo vergraben haben.» Traurig schüttelt Polivka den Kopf. «Und drittens», setzt er leise nach, «ist unser Strafvollzug noch nicht mit Unisexgefängniszellen ausgestattet. Dir die nächsten dreißig Jahre lang nur zuwinken zu dürfen, aus dem Männertrakt quer über den Gefängnishof, das ist nicht wirklich eine Perspektive.»
Über ihnen flüstert es im Blätterdach der grünen Kathedrale. Eine Amsel hebt zu singen an, nicht mehr als eine schüchterne, fragile Tonfolge, ein gleichsam in die Luft gemaltes Fragezeichen. Kurz herrscht Stille, aber dann treibt ein verirrter Windhauch eine ferne Melodie heran. Es ist die Antwort eines anderen Vogels, der das Thema aufnimmt und mit hellen, klaren Kontrapunkten variiert.
Sophie und Polivka stehen eng umschlungen, so als würde ihre mittägliche Küssnacht ewig dauern, und ein paar verirrte Sonnenstrahlen tanzen in der hohlen Gasse, durch die viel zu bald der Landvogt kommen wird.
26
«In Ordnung.» Doktor Singh, an einem Ohr sein Telefon, im anderen einen Zeigefinger, um es vor dem Lärm der vorgeblichen Fußballfans zu schützen, nickt. «In Ordnung, Herr Oberhauptbrandmeister.» Singh verstaut das Handy in der Uniformjacke und wendet sich an Polivka. «Sie kommen. Ein Mercedes und ein BMW. Der zweite Wagen fährt im Abstand von rund hundert Metern, wie wir es vermutet haben.»
«Beim Feuerwehrposten hat alles geklappt?»
«Angeblich wie am Schnürchen. Der Chauffeur des Fürsten dürfte zwar ein bisschen ärgerlich gewesen sein, aber er hat den Wagen schließlich doch gewendet.» Der Doktor streift den Ärmel hoch, um einen Blick auf seine Uhr zu werfen. «In längstens fünf Minuten sind sie da.»
«Herr Doktor?»
«Ja?»
«Was ich Sie fragen wollte …» Polivka zeigt auf die Waffe, die – gut sichtbar – im ledernen Halfter von Singhs Polizeimontur steckt. «Diese Pistole … Haben Sie die auch von den zwei Schnapsbrennern geliehen?»
«Aber Herr Bezirksinspektor, was denken Sie denn von unserer Exekutive? Nein, Sie können ganz beruhigt sein, es ist nur die Glock von diesem toten Deutschen, also die, mit der bei dem Scharmützel gestern nicht
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