Polivka hat einen Traum (German Edition)
Oppitz-Marigny passieren lassen und danach den transportablen Zebrastreifen ausrollen. Es ist fest damit zu rechnen, dass sich Oppitz nicht an die von Polivka gestellten Bedingungen halten, sondern wenigstens ein weiteres Auto mit bewaffneten Agenten folgen lassen wird. Sobald der zweite Wagen auftaucht, sollen die Lehrerinnen ihre Kinder möglichst tölpelhaft über den Zebrastreifen führen. Zwei Schüler werden mitten auf der Straße einen Streit anzetteln und sich miteinander balgen, einem Mädchen wird ein Stapel Bücher aus den Armen fallen, der wieder aufgesammelt werden muss. Das Intermezzo sollte nur so lange dauern, bis der erste Wagen außer Sichtweite und nicht mehr einzuholen ist. Natürlich muss damit gerechnet werden, dass die Leibgarde des Fürsten nicht geduldig wartet, bis der Spuk vorbei ist, sondern mit Gewalt versucht, die Stelle zu passieren. Daher wird auch das Auge des Gesetzes über den korrekten Ablauf des Geschehens wachen, der vermeintliche Revierinspektor Ottfried Gutmaisch nämlich, der – wenn alles glattgeht – nur am Straßenrand zu stehen und seine Uniform zu präsentieren hat.
3. die Abzweigung zur Schindergasse. Hier, im Westen des Ortes, wird die Kolonne der tschechischen Schlachtenbummler die Straße nach Poysdorf blockieren. Direkt an der Kreuzung wird Revierinspektor Doktor Singh den Wagen des Fürsten erwarten und ihn in die Kellergasse dirigieren, mit dem Hinweis, dass die Tschechen ohnedies in Richtung Presshaus unterwegs seien und der Weg in Kürze wieder frei sein werde. Vor den ersten Kellern aber werden schon Sophie und Polivka auf Oppitz lauern. Während Singh dem Wagen in die Einfahrt folgen wird, um – kraft des Zaubers seiner Polizeimontur – mögliche Tätlichkeiten seitens Omars, Stranzers oder des Chauffeurs zu unterbinden, werden sich die Fußballfans zerstreuen, sodass allfällige Verfolgerautos ungehindert Richtung Poysdorf brausen können.
Ohne indisches Zitat kann Singh sein Referat natürlich nicht beschließen. Also breitet er die Arme aus, legt eine kurze Pause ein und sagt dann mit bedeutungsvoller Stimme: «Nur die toten Fische schwimmen mit dem Strom.»
Der Vortrag ist beendet, und die Leute applaudieren. Sie kennen zwar die größeren Zusammenhänge nicht, sie wissen aber, dass sie einer guten Sache dienen. Gutmaisch hat es treffend formuliert – die Freunde ihrer Freunde sind auch ihre Freunde –, was jedoch in erster Linie zählt, ist das Bewusstsein, Teil einer fidelen und ambitionierten Kunstaktion zu sein. Wenn Spencer Tunick, dieser sonderbare Fotograf aus Übersee, zweitausend Menschen dazu bringt, sich nackt auf einem Fußballfeld zu wälzen, warum sollte sich dann die Herrnbaumgartner Bevölkerung der Mitwirkung an diesem zwar bizarren, aber weit manierlicheren Happening verweigern?
Dreizehn Uhr. Sophie und Polivka begeben sich zur Schindergasse, um die örtlichen Gegebenheiten zu studieren. Heiß und flimmernd liegt die Luft zwischen den Häusern, eine Atmosphäre wie in einem mexikanischen Pueblo kurz vor dem Duell der Gringos: schattenlos und staubig, menschenleer und unheilschwanger. Polivka hat sich die Jacke ausgezogen und über den Arm gehängt; auf seiner Stirn und Nase glitzern Schweißtropfen. Sophie dagegen scheint die Hitze nicht zu stören: Sie schreitet federnd aus und strebt mit grimmiger Entschlossenheit dem Kampfplatz zu.
«Hier müssen wir nach rechts», sagt Polivka, dem Singh zuvor den Weg beschrieben hat.
Sie biegen nach Nordwesten ab, um fünfzig Meter weiter in ein anderes Universum einzutauchen. Schillernd grün wölbt sich mit einem Mal ein Baldachin aus Blättern über ihnen, während sich die Gasse zusehends zum Hohlweg, bald zu einem regelrechten Canyon wandelt. Beiderseits türmen sich haushohe Lösswände auf, porös, zerfurcht und rötlich gelb wie Pergament, die Kämme dicht bewaldet. Ungezählte Stürme haben diesen Boden aus dem eiszeitlichen Alpenvorland in das Weinviertel getragen, ungezählte Regengüsse haben diese Schlucht ins Jahrmillionen alte Sediment gegraben. Unten schmiegen sich die Kellertüren in die steilen Flanken, grob gezimmertes, von klirrenden Wintern und brütenden Sommern ausgebleichtes Holz, darüber, in geschätzten sechs bis sieben Metern Höhe, klaffen hin und wieder große, offenbar von Menschenhand geschürfte Löcher und Nischen auf.
«Was ist das?», fragt Sophie.
«Laut Ottfried sind es ehemalige Behausungen», sagt Polivka. «Angeblich haben hier bis weit ins
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