Polizei-Geschichten
einem der ersten Tage nach seiner Heimath besuchte
er das Grab seiner Mutter. Die Dämmerung war hereinge-
brochen, als er auf den Kirchhof kam, und er hatte einige
Zeit zu thun, bis er unter den vielen alten und neuen Grä-
bern das gesuchte fand. Lange, lange saß er hier auf dem
Hügel, die Stunden verflogen ihm in seinen Träumen und
Erinnerungen, ohne daß er es bemerkte. Endlich erhob er
sich und pflückte eine wilde Blume; dann wollte er sich
entfernen. Es war aber noch Jemand zugegen, augenschein-
lich in ähnlichen Gefühlen, denn wenige Schritte weiter
erhob sich jetzt von einem andern Hügel ebenfalls eine Ge-
stalt. Beide hatten einander in ihren Trauergedanken nicht
wahrgenommen, obwohl nur ein einziger Grabhügel sie
trennte. Arthur bog um das Grab seiner Mutter, der An-
dere um den Hügel, an dem er gesessen, und so gewahrte
jetzt Jeder in der Dunkelheit die fremde Gestalt. In diesem
Augenblick trat plötzlich der Mond aus einer Wolke und
beleuchtete ihre Gesichter, — Beide fuhren vor einander
zurück. Der zweite war der Polizeidirektor W.
Arthur betrachtete ihn mit einem lodernden Blick, der
aus dem bleichen, abgewehrten Gesicht gespenstisch fun-
kelte, und sein Herz pochte und kochte in gährender Auf-
regung.
„Mögest Du in der Sterbestunde einsam und verlassen,
in der Angst des Wahnsinns verenden!“ rief er mit gellen-
dem Ton.
Der Polizeidirektor hatte ihn mit starrem entsetztem
Ausdruck, als ob er ein Gespenst sehe, betrachtet. Seine
Hand zeigte auf das eben verlassene Grab, während sein
Auge wie gebannt auf das funkelnde Auge des Gegners
schaute, und er stieß mit zitternder Stimme das Wort der
Verzweiflung aus:
„Mörder!“ —
Arthur lachte in gellendem, häßlichem Ton. Dann trat
er einen Schritt auf ihn zu und murmelte düster in das
verzerrte Gesicht des Mannes:
„Mein Vater und meine Mutter sind in Fluch und Elend
gestorben, Du hast mich zur Waise gemacht! Dein Ende
wird im Fluch der Menschen und im Elend der wahnsinni-
gen Verzweiflung sein!“ —
Der Mann wich zurück, wie vor dem Hauch eines Pest-
kranken, und er stützte sich auf das Kreuz seines ältesten
Sohnes.
„Noch hast Du zwei Kinder, noch wankst Du nicht wie
ich als freudloses Gespenst durch das Leben, aber — “
fügte Arthur mit drohend erhobenem Arm hinzu, „wir se-
hen uns wieder, und Du wirst noch einsamer, noch ver-
lassener sterben, als meine Mutter — verstehst Du, als
meine Mutter — einsam, ganz einsam, verlassen in Dei-
nem Fluch!“ —
Mit diesen Worten strich Arthur an ihm vorüber, und
der Mann sank bleich und entsetzt auf den Grabhügel
seiner Kinder. Als er sich wieder erhob, war er allein, aber
in seinen Ohren gellten die Worte:
„Wir sehen uns wieder!“ —
Der dritte Sohn des Polizeidirektors hatte während Arthurs
Gefangenschaft seine Studien angetreten und vollendet,
und stand als Praktikant beim Landgericht in ***. Er war
überdies seit Kurzem mit einem liebenswürdigen Mädchen
aus einer der angesehensten und reichsten Familien der
Universitätsstadt verlobt, und arbeitete mit um so größerer
Energie zu seinem letzten Examen.
Eines Tages kam Heinrich, so hieß der junge W., in ei-
ner ungewöhnlichen Stimmung zu Tisch. Er war zerstreut
und nachdenkend, und antwortete mehrmals auf die Fra-
gen seines Vaters in ganz verkehrter Weise. Als der letz-
tere ihn darauf aufmerksam machte, nahm er sich zwar
zusammen und sprach eine Zeitlang mit großer Lebendig-
keit über gleichgültige Dinge, aber man konnte doch das
Gewaltsame, Gezwungene seiner Weise wohl bemerken,
und bald versank er auch wieder in seine frühere Starr-
heit. Auf das eindringliche Befragen seines Vaters erzählte
er denn, daß er am gestrigen Abend, als er seine Braut
ins Theater geführt, im Gedränge mit dem jungen Arthur
zusammengetroffen und von diesem im Beisein mehrerer
Offiziere und jüngeren Beamten beleidigt worden sei. Die
gesellschaftlichen Ansichten erwarteten in diesem Fall
eine Ausgleichung durch Waffen, aber nach dem Vorfall
mit seinen älteren Brüdern habe er nicht nur einen Ab-
scheu vor jedem Duell, sondern es graue ihm namentlich
auch vor Arthur, und er wisse nicht, was er thun solle.
Der Vater erschrak bei dieser Erzählung und verlangte
mit besorgten, ängstlichen Worten seinem Sohn das Ehren-
wort ab, daß er sich mit Arthur unter keiner Bedingung in
ein Duell einlassen wolle. Heinrich suchte ihn über
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