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Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Titel: Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Soboczynski
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der Straße zum Supermarkt und Leon mich fragte, weshalb
     ich so weit weg sei. Und ich erinnere mich, daß ich ihm entweichen wollte und mich dafür ihm gegenüber schuldig |117| fühlte. Doch daß die Scham, zusammen mit ihm von Freunden und Nachbarn gesehen zu werden, mit ihm, dem armen polnischen Großvater,
     stärker war als jedes Schuldgefühl. Denn glitzernd war die neue Welt, in die ich geraten war, und löchrig war Leons Anzug,
     und wenn er den Mund öffnete, zeigten sich Zahnlücken, die niemand sehen sollte.
    Das fiel mir ein, als Leon im Sarg lag, und mich plagte ein schlechtes Gewissen. Denn das hatte ich ihm noch sagen wollen:
     daß die Ferne, die ich suchte, als ich neben ihm herging, eine Sünde war. Dann wieder hoffte ich, daß er sich an mein Verhalten
     ohnehin nicht mehr erinnern konnte. Und ich fragte mich plötzlich, ob er sich wohl als Geist, jetzt, da er tot war, selbst
     wenn er die Episode zu Lebzeiten vergessen hatte, um so besser an sie erinnern könnte. Und mit einem Mal war mir klar, daß
     solche etwas abwegigen Gedanken nur die Trauer zu erzeugen vermag.
    Als Leon beerdigt wurde, folgte der Trauerzug Priester Szubski. Großvater wurde in die Tiefe gelassen. Szubski sprach vom
     Papst, wie dieser im fernen Rom an uns dachte; und davon, daß wir allesamt Sünder seien, er wiederholte es mit zitternder
     Stimme: »Allesamt!« Und daß wir bald schon ins Himmelreich gelangen oder in die tiefste, glühendste Hölle hinabfahren würden.
     Und er sagte, daß Leon ertragreich mit den Schweinen und sorgsam mit den Feldern umgegangen sei.
    Maria blickte abwechselnd auf Priester Szubski und |118| auf den hölzernen Sarg in der Erde, und manchmal wandten sich ihre Augen auch zum großen Holzkreuz, das mitten auf dem Friedhof
     aufgestellt war. Und um das Kreuz hingen Äpfel an Bäumen, eine schwere Last, die augenblicklich von den Ästen herabzufallen
     drohte.
    Hinterher gingen alle in die Jutrzenka, und es gab Suppe mit Fleischklößchen. Und danach Schnitzel und Speiseeis, und ich
     erinnere mich, daß Tadek nach Hause getragen wurde und daß meine Eltern die Predigt lobten und daß Maria die darauffolgenden
     Abende die Zimmer ihres kleinen Hauses durchschritt. In einem schleppenden Gang. Und daß sie dabei sagte, daß sie Leon höre,
     daß er ihr immerzu etwas sage. Eines Nachmittags erzählte sie, daß sie vor wenigen Stunden vergessen habe, das Bügeleisen
     auszustellen, und nur durch Leon, der sie darauf als Geist aufmerksam gemacht habe, ja, nur durch ihn, eine schlimme Feuersbrunst
     habe verhindert werden können. Die Schürze habe beinahe schon, unter dem glühenden Eisen, das auf ihr lag, zu brennen begonnen.
     Niemand zweifelte daran.
    Als die Söhne und Töchter sich am letzten, verbliebenen Wodka Leons labten, lag er noch wenige Schritte neben ihnen im Zimmer.
     Eine dichte Wolkendecke hüllte das Dorf ein, verbarg die Sterne. Es war Nacht. Der Abort lag außerhalb des kleinen Hauses
     meiner Großeltern, am Rande eines Ackers. Ich tastete mich an der Hauswand entlang, an den Hühnerställen vorbei, |119| langsam hin zu der Holzhütte, in der man die Notdurft verrichtete.
    Kurz bevor man hineintrat in den Verschlag, der auf einer leichten Anhöhe montiert war, blickte man hinaus auf einen Acker.
     Die Kontur des Horizonts hob sich, der Dunkelheit wegen, nur durch einen sanften, in die Landschaft gezogenen Strich ab. Es
     roch nach Erde, als hätte sie jemand gerade umgegraben. Es war später Sommer, doch vom Herbst war noch nichts zu spüren; bleiern
     und schwer lag die Luft über Biskupiec. Und ich wollte gerade die Holztür öffnen, um mich des Drangs, den ich den gesamten
     Abend über schon unterdrückt hatte, zu entledigen, als es hell wurde und etwas mich blendete. Nur eine Taschenlampe, ich wußte
     es, ein Nachbar, der, nachdem er sein Geschäft verrichtet hatte, die Holztür öffnete und nach dem Weg suchte. Er sah mich
     überrascht an, aber ich rannte. Die Angst war da. Und ich rannte zurück ins Haus, wollte zurück nach Koblenz, nach Deutschland,
     dorthin, wo die bunten Geschäfte und die Süßwaren vom Leben kündeten. Und als ich eintrat, verschwitzt, wieder ins Wohnzimmer,
     da lachten alle, und Tadek hatte vor Lachen ganz feuchte, gerötete Augen und meine Mutter auch. Da hatten sie Anekdoten gefunden,
     aus Leons Zeit, und lachten über ihn, mit ihm, der nur wenige Meter neben ihnen lag, und Maria, ganz fröhlich, zeigte auf
     den hellen Fleck an der Wand,

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