Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
Wohnzimmer. Und den Kachelofen.
Krystyna Brüske hatte ihn nie zuvor gesehen, und sie wußte doch genau, wer er war: der Enkel des alten Gladkowski.
Den alten Gladkowski hatte sie als Mädchen kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kennengelernt. Und wohl auch noch seinen
Enkel, der sie nun besuchte, auch wenn sie sich ausgerechnet an ihn nicht erinnern konnte. In eben jenem Haus, das er nun
mit einer Spiegelreflexkamera betrat, hatte sie den alten Gladkowski einst die Koffer packen sehen. Gladkowski war der letzte
seiner Familie, der hier im ostpreußischen |128| Osterode übriggeblieben war. Er hielt als Familienoberhaupt die Stellung, als die Rote Armee über Ostpreußen hinwegrollte
und die Deutschen in überfüllten Zügen oder auf Planwagen nach Westen zogen. 14 Millionen flohen vor den sowjetischen Soldaten
oder wurden zwangsumgesiedelt, Gladkowski blieb. Schließlich wurde auch er müde, vom Krieg gezeichnet, packte er 1949 die
Koffer. Und machte sich auf in den Westen. Ins Ruhrgebiet.
So zogen die Brüskes aus Litauen in das Haus der Gladkowskis. Hier, an der Masurischen Seenplatte, fanden sie eine neue Heimat.
Mann, Frau, Kind, endlich Frieden und das bißchen Glück. »Wir waren erlöst«, sagt Krystyna Brüske, »über unseren Köpfen regneten
keine Bomben mehr nieder.«
Und nach all den Jahren, die seit dem Krieg ins Land gegangen waren, kam es nun zu der Begegnung mit dem einstigen Bewohner
ihres Hauses. Zielstrebig suchte er den Kachelofen. »Ist dies noch der alte Ofen?« habe er sie gefragt, erinnert sich Krystyna
Brüske. »Und heizt er noch?« fragte er. »Er heizt noch«, sagte sie. »Wissen Sie«, sagte Gladkowski, »er hat mich damals gewärmt.«
»Er wärmt mich immer noch«, sagte Krystyna Brüske. Und als sie ihm Kaffee einschenkte, dem Gast aus Deutschland mit dem polnischen
Namen, da fragte sie, die Polin litauischen Ursprungs mit dem deutschen Nachnamen, ob er gekommen sei, um sich das Haus zurückzuholen.
»Gott bewahre«, wehrte Gladkowski |129| ab. Er kam damals wohl tatsächlich nur, glaubt Krystyna Brüske, um noch einmal den Ofen zu sehen.
Auch die Brüskes waren vertrieben worden. Eine Bauernfamilie aus einem Vorort von Wilna. Nur weg von Stalin, hatten sie sich
gesagt, als der sowjetische Diktator Litauen einnahm. Sie wußten, daß Stalin vorhatte, ganze Völker umzusiedeln. Und nach
Sibirien wollten sie nicht. Wie die Brüskes zogen Millionen Vertriebene in die Häuser von Vertriebenen. Millionen Häuser wechselten
über Nacht den Besitzer. So wie schon wenige Jahre zuvor, ab 1939, als nach dem deutschen Angriff auf Polen dem »Reichsführer
SS« Heinrich Himmler die Germanisierung des Ostens übertragen wurde. In Ostpreußen sollte das »Großgermanische Reich« seinen
Vorhof haben; bis zum Ural hätte es sich nach den nationalsozialistischen Visionen erstrecken sollen. Rigoros und innerhalb
kürzester Zeit wurde aus den alten Reichsgebieten und dem annektierten Polen die polnische Bevölkerung deportiert, die Menschen
kamen in den Westen Deutschlands oder nach Südpolen, in das sogenannte »Generalgouvernement«, und wurden als Zwangsarbeiter
eingesetzt.
Etwa 50 Millionen Menschen der unterschiedlichsten Nationalitäten irrten zwischen 1939 und 1947 heimatlos durch Europa. Ein
gigantisches Karussell gewissermaßen, ein Menschenkarussell, das Hitler und Stalin in Gang gesetzt hatten. Und Litauen stand
dabei im Mittelpunkt: »Zuerst kamen die Sowjets«, erinnert sich |130| Krystyna Brüske, »und vertrieben die polnische Bevölkerung, dann kamen 1941 die Deutschen und töteten die Juden, im Herbst
44 war wieder die Rote Armee an der Reihe. Und zwischendurch kämpften Partisanen: von der litauischen Unabhängigkeitsbewegung,
während der Hitlerzeit die sowjetischen Partisanen, während Stalins Herrschaft deutsche Partisanen. Am Ende war es uns egal,
wer da durch die Büsche kroch. Wir wollten nur noch weg.«
Das alles erzählt Frau Brüske, nachdem wir uns in ihr Wohnzimmer auf die Couch gesetzt haben. Mit weit ausholenden Armbewegungen
versinnbildlicht sie die Völkerwanderungen. Und so ziehen die Flüchtlinge mit Frau Brüskes zerfurchten Händen über eine imaginäre
Landkarte, die in der Luft ihres Wohnzimmers hängt. Die Weltgeschichte scheint nun, nach so vielen Jahren, allein in ihrer
Hand zu liegen. Immer wenn die Sprache auf den Bombenhagel zu sprechen kommt, blickt sie rasch nach oben und zuckt
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