Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Titel: Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Soboczynski
Vom Netzwerk:
Welt geeilt, nach Danzig, nach Ostróda, nach Deutschland. Tadek blieb,
     Tadek trank, sein Körper war sehnig, und sein blonder Oberlippenbart war struppig und dicht. Er fuhr manchmal mit einem laut
     ratternden Moped an den naheliegenden See, um Aale zu fangen. |114| Wenn dieser zugefroren war, fuhr er über das Eis, kippte um, stand wieder auf, fuhr weiter, grundlos, sich die Zeit vertreibend.
     Mehr war auch nicht zu tun, die fünf Stunden im Klärwerk, die er abzuarbeiten hatte, tagaus, tagein, in einem nahegelegenen
     Nachbarort, zogen träge und dumpf an ihm vorbei, und die einzige Frau, die ihn damals begehrte, lebte in Rußland. Er hatte
     sie einst in Kursk kennengelernt, wo er als Gastarbeiter ein Jahr lang in einem Kernkraftwerk arbeitete. Er hatte ein Bündel
     Briefe, seit Jahren kamen keine neuen hinzu. Aber er sagte, mit fester Stimme, einer noch würde ihn ganz sicher eines Tages
     erreichen.
    Manchmal, scherzhaft, sprach er davon, daß er ein Kind mit ihr haben könnte. Mit dieser Frau. Man wisse es nie so genau. Doch
     trotz der Liebesgeschichte, die er erzählte, wenn die Sprache auf Rußland kam, erschien mir das Land, das er beschrieb, von
     unendlicher Grausamkeit. Denn er war ein Geschichtenerzähler, und er wußte, daß jeder Idylle eine Mordgeschichte folgen mußte.
     Und so sprach er davon, daß in einer Kneipe in Kursk ein polnischer Arbeiter aus Eifersucht einen Russen erstach. Und daß
     dieser Pole verhaftet wurde und man ihn in einem Gefängnis so zurichtete, daß er, als ihn Tadek eines Tages besuchte, nur
     noch polnische Volkslieder sang, seiner Sinne beraubt, durch Schläge auf seinen glattrasierten Schädel. Und Tadek schloß seine
     Erzählung vom wilden Rußland zumeist damit ab, daß er sagte: »So sind sie, die Russen.«
    |115| So saßen wir oft im Wohnzimmer, und ich wußte, daß er es genoß, wenn ich mich fürchtete. Ich sah ihn, die Messerstecherei
     vor Augen, erschrocken an. Er blickte väterlich zurück. Natürlich fürchtete ich mich nicht wirklich, wußte, daß er log, daß
     die Sache mit der Messerstecherei zumindest übertrieben war. Vermutlich ahnte er wiederum, daß ich meinen Schrecken nur vorgab.
     Doch in dieser gemeinsamen Lüge ließ es sich gut leben.
    Ein Jahr vor seinem Tod hatte uns Großvater Leon in Koblenz besucht. Mit einer braunen Ledertasche, in der hartgekochte Eier
     und Butterstullen steckten, die er auf der Reise verschmäht hatte. Er sei zu aufgeregt gewesen, sagte er, um zu essen. Die
     Bilder, die am Zugfenster an ihm vorbeizogen, die reichen deutschen Bauerngehöfte, die soliden Fabriken, die der Zug passierte,
     hatten ihn gefesselt.
    Sein Dorf hatte er nur einmal zuvor verlassen: als er gegen die Deutschen kämpfte. Das war lange her. Und er sprach nicht
     darüber. Seit er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, legte er über jene Zeit ein eisiges Schweigen. Auch die Opfer
     schwiegen, das lernte man in Polen, sehr eisern. Mein Vater, als ich ihn einmal fragte, weshalb Leon eine Glatze hatte, sagte,
     das komme vom Stahlhelm. Männer, die Stahlhelme trügen, bekämen ganz schnell, schon in ihrer Jugend, eine Glatze. Das war
     das einzige, was ich über Leons Soldatendasein jemals erfuhr.
    |116| Leons Leben bestand aus den Feldern um das Dorf herum, dem Schilf an den Seen, den Schweinen, die in den Ställen quieken und
     die er genauso gerne mästete, wie er sie zu schlachten begehrte. Es bestand aus den Hühnern, die er jeden Tag fütterte, und
     aus einem zugefrorenen See am Dorfende, auf dem seine Augen im Winter ruhten.
    Mutter war es peinlich, daß Leon nun da war, in Koblenz, daß er sich in unserer westdeutschen Zweizimmerwohnung ausbreitete.
     Hartgekochte Eier kullerten auf den Küchentisch, die Leon aus seiner Tasche hervorgezogen hatte. Die Eier, die ihm Maria eingepackt
     hatte und die er auf der Reise verschmäht hatte. Mutter mochte es nicht, daß er nach billigem Wodka roch, nach billigem Rasierwasser,
     daß er billige Anzüge trug. Und daß ihn die deutschen Nachbarn sahen, diesen glatzköpfigen, schlecht rasierten Mann aus dem
     Osten, der sich die Zigaretten bereits im Hausflur anzuzünden pflegte. Seine Gegenwart verwies auf unsere Vergangenheit. Und
     Mutter wollte die Vergangenheit weit hinter sich lassen.
    Ich erinnere mich daran, daß ich, als Leon uns besuchte, mit ihm einkaufen ging. Daß ich mich auch zu schämen begonnen hatte.
     Daß ich einen Sicherheitsabstand wahrte, als er neben mir herging auf

Weitere Kostenlose Bücher