Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
Tadek wankte seither, berichtete Ania weiter, mit einer Gipsbandage,
die seinen linken Arm verhüllte, durch Biskupiec. Einer seiner Bekannten, die mit ihm gemeinsam an diesem unheilvollen Abend
zusammensaßen und Karten spielten, lief hingegen mit einem blutunterlaufenen Auge umher. Und somit gaben die beiden, schrieb
Tante Ania trocken, mit ihren korrespondierenden Verletzungen Anlaß für spöttische Bemerkungen der übrigen Dorfbewohner, die
nicht unrichtig schlossen, das blaue Auge und der bandagierte Arm könnten in einem handfesten Kausalverhältnis zueinander
stehen.
Ich steige in den Zug: keine Großraumwagen, sondern |125| die kleinen, in Deutschland beinahe schon in Vergessenheit geratenen Abteile. Ich finde ein unbesetztes, mir ist nicht nach
Reden zumute. Den Gang läuft ein gebückter, alter Mann entlang, der in regelmäßigen Abständen laut »piwo!« schreit, »Bier!«,
im fleckigen Mantel, die Haare verwildert, die Haut zerfurcht und dunkel, als hätte er gerade einen sehr langen Sommer mit
Feldarbeit hinter sich gebracht. Doch das Land, das vorbeizieht, ruckelnd und schwer, hält der Winter seit langem fest umklammert.
Bauerngehöfte, verfallene, ziehen am Zugfenster vorbei, eine flache, unaufgeregte Landschaft: die Häuser aus rotem Backstein,
die, jeweils mit einem angrenzenden Acker versehen, in großem Abstand voneinander errichtet worden waren. Sie erinnern an
verlassene Trutzburgen, in der Kälte ist niemand auf den Straßen zu sehen.
Dieses Land. Ich erinnere mich, daß in meinem Stammbaum, obgleich über ihn niemand jemals Buch geführt hat, deutsche und polnische
Nachnamen sich verzweigten. Mein Großvater mütterlicherseits etwa hieß zwar Wiczinski und hatte polnische Vorfahren, begriff
sich aber, nicht ohne Stolz, als Preuße. Biskupiec gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg, unmittelbar an der Grenze östlich des
polnischen Korridors gelegen, Ostpreußen an. Der Korridor hatte, als Folge des Versailler Vertrages, Polen einen Zugang zum
Meer verschafft, er trennte Ost- und Westpreußen voneinander. Direkt an der Grenze wohnend, verschwammen die Namen |126| und die Nationalitäten der Bewohner ohnehin, die Löbischs und Soboczynskis, die Wiczinskis und Harnischs durchdrangen unsere
Genealogien: Die meisten Deutschen hatten auch polnische Verwandte und umgekehrt. So oft hatten bereits Fürsten und Großmächte
die Grenzen in jener Gegend willkürlich verschoben, daß Pässen, ausgestellt von welcher Regierung auch immer, eine lediglich
formale Aussagekraft innewohnte. Und mir schien, als ich in Iława einen kurzen Aufenthalt hatte und in der kargen Bahnhofskneipe
einen polnischen Kaffee trank, der stark war und sehr bitter schmeckte, daß sich die Geschichte an mir selbst fortschrieb.
Bis heute. Denn es wäre in jedem Fall eine Lüge gewesen, hätte ich eine bestimmte Antwort auf die oft gestellte Frage gegeben,
zu wem ich denn nun hielte bei der Fußballweltmeisterschaft im nahenden Sommer: zu den Polen oder zu den Deutschen.
Ostródas Bevölkerung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg fast vollständig ausgetauscht. Die Deutschen wurden vertrieben. Es siedelten
sich hier nun Polen an, die wiederum aus dem Osten, von Stalin, vertrieben worden waren. Daher plante ich, in Ostróda nicht
nur Tadek wiederzusehen, sondern wollte auch Krystyna Brüske treffen. Krystyna Brüske, so hatte ich einem Brief Tante Anias
entnommen, sei einst aus Litauen nach Ostróda vertrieben worden; eine ältere Dame, die sich kurioserweise vehement für die
Erinnerung an die einstigen Deutschen in Ostróda engagiert. Frau Brüske |127| schien mir, einer dunklen Vorahnung folgend, für die Gegend, aus der ich stammte, eine Art Schlüssel zu sein.
Sie erwartet mich bereits, diese zierliche Dame, die ein buntes Halstuch trägt, Hausschlappen und einen weiten, grauen Pullover,
der ihre Cordhose bis zu den Knien bedeckt. Ihr Gesicht, obgleich faltenreich, hat die Aufgewecktheit eines jungen Mädchens,
das auf Spielgerüsten turnt. Sie mustert mich mit einem wachen Blick und grüßt mit einem festen Handschlag.
Wir stehen an der Türschwelle ihres kleinen Hauses. Frau Brüske erzählt sogleich eine Anekdote, sagt, daß es jetzt über zwei
Jahre her ist, als ein Deutscher an ihrer Tür klopfte. An einem kalten, verregneten Herbsttag, nachmittags. Ein alter Mann
um die Siebzig bat um Einlaß. Er würde gerne das Haus fotografieren, sagte er. Bitte auch das
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