Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
zusammen.
So als seien die Detonationen knapp, just in diesem Augenblick, unmittelbar neben dem Haus eingeschlagen. Und als sie vom
Kriegsende spricht und vom neuen Leben in einem neuen Haus, da blicke ich in das mädchenhafte, das strahlende Gesicht, das
einen niemals endenden Sommer erwartet hatte, blicke in Sommersprossen auf einer Kindernase und sehe Murmeln, die vor diesem
Haus von Kinderhand in eine ausgehobene Kuhle gerollt wurden. Und »Krystyna« mag Mutter zornig herausgerufen |131| haben, am Fenster lehnend, zum drittenmal schon, als das Essen auf dem Tisch stand und zu erkalten drohte.
Zwei Katzen kratzen an der Fensterscheibe. Unterbrechen die Vergangenheit. Ich blicke mich um. An der Wand hängen zwei mächtige
Hirschgeweihe. »Noch von meinem Vater«, sagt Frau Brüske. Draußen nieselt es. Der Regen ist der erste Vorbote des Frühlings.
Es taut. Der Winter ist kalt gewesen, minus zehn, minus 20 Grad. Die Seen waren zugefroren. Jetzt kommen bereits die Touristen
wieder, jedes dritte Auto auf der Straße hat ein deutsches Nummernschild. Und jedes Jahr kommen mehr. Von Ostróda aus zieht
sich ein Meer aus Seen weit hinauf in den Nordosten Polens. Bis es dann irgendwann an Litauen stößt. Keine Autobahn zerschneidet
das Land, keine Großstadt stört die Idylle, es sind die Störche, die den meisten Lärm machen. Ein halber Liter Bier kostet
umgerechnet einen Euro, ein Schnitzel mit Sauerkraut zwei Euro. »Nur die Säufer stören bißl«, sagt später, als ich Frau Brüske
verlassen hatte, ein untersetzter Besucher in Ostródas Innenstadt. Nachts würden die Polen an den Hauswänden entlangtorkeln.
Aber bei einer Arbeitslosenquote von 25 Prozent sei das wohl normal. »Die kippen alles in sich hinein«, sagt er.
Krystyna Brüske öffnet das Fenster. Sie läßt die zwei Katzen herein. Die eine setzt sich auf ihren Schoß, die zweite läuft
zum Futternapf. Es ist früher Nachmittag. |132| Frau Brüske schenkt uns Bier ein. Bevor sie weitererzählt, müsse sie erst eine Zigarette rauchen, sagt sie. Ihre Blicke wandern
durchs Wohnzimmer. So wie jetzt, denkt man, muß es seit dem Herbst 1949, als der alte Gladkowski seine Koffer gepackt hatte,
ausgesehen haben: ein zerschlissenes Sofa, die Fenster undicht, der knarrende Holzboden. Die Zeit wie konserviert.
»Es sind nicht nur Touristen, die hierherkommen. Viele kommen«, erzählt Frau Brüske, nachdem sie ihre Zigarette ausgedrückt
hat, »um wieder einen Blick in ihre alten Häuser zu werfen.« Erst kürzlich sei eine deutsche Familie zu ihrer Nachbarin gekommen.
Da habe diese die Herrschaften erst einmal ins Wohnzimmer gesetzt, sei kurz verschwunden und mit einer großen Gartenschaufel
zurückgekehrt. »Grabt«, habe sie ihnen laut auf polnisch zugerufen. »Wenn ihr damals etwas verbuddelt habt, dann grabt. Ich
habe nichts dagegen.« Die Deutschen, erzählt Krystyna Brüske und lacht dabei, die nichts verstanden haben, dachten, die Frau
wolle sie erschlagen. Dabei sei der Vorschlag nicht einmal abwegig gewesen. Nicht wenige hatten, bevor sie wegzogen, ihre
Wertsachen im Acker verbuddelt, in der Hoffnung, sie nach einer möglichen Wiederkehr zu bergen.
Als die junge Krystyna in den ersten Nachkriegsjahren zur Schule ging, nahm sie immer eine Abkürzung über deutsche Gräber.
Großbürgerliche Grabanlagen, eine mächtige Allee, eine Kapelle, ein Spalier von Rosen |133| befanden sich mitten im Zentrum der Stadt, in der Ulica Olsztyńska. Nach der Schulzeit hat Krystyna Brüske die Kleinstadt
für eine Weile verlassen, um polnische Literatur zu studieren. Sie kehrte erst 1983 wieder zurück. Noch immer ist sie empört:
Der Friedhof war zerstört, die Grabplatten waren für polnische Gräber entwendet worden, und das, was übriggeblieben war, das
war heillos verwildert. »Wie kann man das machen?« fragt sie, sie fragt sich das noch immer, sie schüttelt den Kopf. »Friedhöfe
sind heilig«, sagt sie. Seither gibt Frau Brüske der 35 000-Einwohner-Stadt keine Ruhe. Wer war dafür verantwortlich? Sie erzählt, daß sie bei den Leuten nachbohrte. Und sie hält
kurz inne. Eine Nachbarin habe ihr geantwortet, es seien die Zigeuner gewesen.
Seit dem Jahr ihrer Rückkehr kümmert sich diese Frau mit ihrem typischen Kriegs- und Vertreibungsleben um die Vergangenheit.
Um so mehr, seit ihr junger Freund Wojciech Gudaczewski nach dem Zusammenbruch des polnischen Sozialismus einen Verein gegründet
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