PolyPlay
Stationen lief und bei Pasulkes Scherz über Kramers neue Frauenfeindlichkeit von gestern endete. Alles fiel ihm wieder ein. Der Abusch-Fall. Majorin Schindler. Sogar die Auseinandersetzung mit den Dummwessis vor dem Chinarestaurant. Er dachte daran, sich krank zu melden und so lange im Bett zu bleiben, bis sich der ganze Mist in Luft aufgelöst hatte. Dann schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein.
www.robotron.de war eine Domäne mit vielen interessanten Informationen. Da wurde über die verschiedenen Marken berichtet, unter denen Robotron-Produkte liefen (von Compaq über IBM bis Zenith war alles dabei). Da wurden die verschiedenen Produktionsstandorte vom VEB Buchungsmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt bis zum VEB Robotron Büromaschinenwerk Sömmerda ausführlich vorgestellt, die jeweiligen Bestarbeiter und Kollektive der sozialistischen Arbeit inklusive. Es gab Preislisten, Produktlinien, Kundendienstadressen, Formulare für Verbesserungsvorschläge und Rückmeldungen, Benutzerforen und zahllose andere Dinge mehr. Aber nirgendwo, selbst in der Preisklasse von 2000 Mark, gab es einen Rechner, wie ihn Kramer gestern im Jugendzimmer von Michael Abusch gesehen hatte. Es gab nicht einmal etwas annähernd Vergleichbares. Die Technologien, die nötig gewesen wären, um einen sechs Blatt Papier dicken Bildschirm herzustellen, schienen noch gar nicht in der Serienproduktion angekommen zu sein.
Nach menschlichem Ermessen bedeutete das, dass die Maschine in Michael Abuschs Zimmer eine optische Täuschung gewesen sein musste. Kramer glaubte mittlerweile, dass Michael Abusch ein ziemlich fixer Junge gewesen war, aber dass er sich diesen Rechner aus exotischen Teilen selbst zusammengeschraubt hatte, hielt er nicht für möglich. Dazu war das Gerät zu perfekt, zu integriert, zu schlau gewesen. Um sicher zu gehen, dass er in der letzten Zeit nicht einfach verschiedene Trends verschlafen hatte, sah er sich noch einmal das Angebot der Elektronik-Versender in der DDR an. Es gab nicht sehr viele und sie alle wurden direkt oder indirekt von der Robotron kontrolliert. Das Ergebnis überraschte ihn nicht: Komponenten wie diese waren in der DDR nicht zu haben. Er wusste aber auch nicht, wo Michael Abusch sie sonst herbekommen haben könnte. Die ehemaligen US-Amerikaner mit ihren mittlerweile vier Nationalstaaten lieferten keine Elektronik an die DDR, sondern bezogen sie höchstens von ihr; Russen und Westeuropäer desgleichen; die Tigerstaaten Südostasiens, Japan inklusive, waren mir ihrem autonomen Wirtschaftsraum vom Weltmarkt so gut wie abgekoppelt (wenn man von dürftigen Verbindungen nach China absah), und sonst kam niemand infrage.
Allenfalls war noch eine Quelle denkbar, die auf weit fortgeschrittene Prototypen aus Vor-Wende-Zeiten Zugriff hatte. Die so zusammenzubauen, dass sie auch funktionierten, erforderte Ressourcen, über die Michael Abusch eigentlich nicht verfügt haben konnte, das wusste auch ein Laie wie Kramer. Fest stand jedenfalls eines: Michael Abusch hatte ziemlich eigenartige Freunde gehabt. Vielleicht sogar so eigenartige, dass sie ihm für nicht bezahlte Rechnungen den Schädel einschlugen. Was natürlich nicht hieß, dass die »politische« Linie der Stasi wieder an Gewicht gewann: Denn das hier war für die Jungganoven aus den vier Stasifällen einige Hutnummern zu groß. Das Telefon klingelte.
»Wo warst du gestern Abend?«, fragte Lobedanz, als Kramer den Hörer noch kaum am Ohr hatte.
Leugnen hatte keinen Sinn.
»Beim Handball.«
»Und das findest du gut? Während hier alles Kopf steht? Die Presse wollte Informationen, und alles, was unser Pressesprecher erzählen konnte, war dieser Bockmist von den ermittlungstaktischen Gründen und dem gegenwärtigen Zeitpunkt. Wir haben einen frischen Mordfall hier anliegen, mein Lieber. Dieser Michael Abusch war nicht irgendwer. Wahrscheinlich steht seine Mutter noch unter Schock. Wenn sie da rauskommt, könnte es ziemlich ungemütlich für uns werden. Handball? Nee, so nich, Rüdiger.«
»Ich brauche eine Eildurchsuchung.«
Lobedanz schwieg. Es war ein verdutztes Schweigen. Na, wer sagt's denn, dachte Kramer. Angriff ist die beste Verteidigung.
»Bei wem?«, fragte Lobedanz misstrauisch.
»Bei Katharina Abusch.«
»Haha, sehr komisch. Sonst noch was?«
Kramer erzählte seinem Chef von dem sehr seltsamen Computer, den er gestern Abend gesehen hatte, und von seinen aktuellen Recherchen dazu. Er erzählte ihm nichts von dem Gespräch bei den Normannen. Wenn
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