PolyPlay
alles morgen.«
»Und was sage ich Lobedanz?«
»Sag ihm, ich ermittle. Komm schon, Jochen, du schuldest mir einen.«
»Aber nich so 'nen großen.«
»Bis morgen. Tschüs.«
»Ja, du mich auch.«
Kramer kappte die Verbindung und stellte das Mobi ab. Die Dinger konnten lästig werden, wenn zu viele Leute die Nummer kannten. Und er musste jetzt zum Handball.
Die Festung
Ein Sturm rollte heran. Unter dem starken Wind bäumten sich die Wellen der Nordsee bereits bedrohlich auf; schon wurde Gischt von den Schaumkronen geblasen. Die See rührte den Meeresgrund um, dreckbraun und graublau das Wasser, weißgrau die Gischt, der lastende Himmel dunkelgrau. Es wäre unter diesen Bedingungen schwer gewesen, die zwei dicken Betonpfeiler, die zwanzig Meter aus dem Wasser ragten, überhaupt zu bemerken, und für Nichteingeweihte hätten sie bestenfalls wie das aufgegebene Überbleibsel einer Ölbohrplattform gewirkt. Öl. Das wäre den meisten wohl eingefallen, wenn sie das Hubschrauberdeck auf der stählernen Plattform gesehen hätten, die von den beiden dicken Pfeilern getragen wurde wie eine verrostete Tischplatte von zwei sehr dicken Beinen. Wer sich nicht für abseitige Tatsachen der Militärgeschichte interessierte, der hätte nicht wissen können, dass dies tatsächlich Überbleibsel waren, aber nicht diejenigen einer Ölbohrplattform. Um Öl war es hier nie gegangen. Sondern um Krieg. Dieses Ding, gegen das die Nordseebrecher anwummerten, als wollten sie es so bald wie möglich abreißen, war einmal eine Festung gewesen, von der aus deutsche Bomberverbände beim Anflug auf London beschossen worden waren. Durchaus erfolgreich, aber wer hatte nach dem Krieg Verwendung für eine künstliche Insel in der Nordsee gehabt, die aus zwei dicken Betonpfeilern und einer stählernen Plattform bestand? Niemand. Also blieb sie sich selbst überlassen. Über zwanzig Jahre lang. Die Zeit hatte der ehemaligen Seefestung äußerlich zugesetzt – die Nordsee war ein zäherer Gegner als deutsche Bomberverbände, und das sah man ihr an. Der Beton der Pfeiler hatte die Farbe der See angenommen, die Plattform rostete vor sich hin, nur die Markierungen auf dem Hubschrauberdeck wirkten seltsam frisch. Aber um das zu sehen, hätte man es überfliegen müssen, und von fliegen konnte bei diesem Wetter keine Rede sein.
In dem gerade aufziehenden Sturm wirkte die Festung wie ein echter Favorit unter den Top Five der gottverlassensten Orte der Welt. Und dennoch war sie bewohnt. Von zehn Männern, um genau zu sein. In diesem Augenblick, während die ersten Brecher schon fast an die Plattform heranreichten, beobachteten die Bewohner die Wetterentwicklung nur mit mäßiger Aufmerksamkeit. Sie hatten nichts zu befürchten, denn die Festung war weitaus widerstandsfähiger, als ihr Äußeres vermuten ließ. Ein paar Luken und Schotten schlossen sich automatisch, und das war es auch schon. Business as usual, mitten im Chaos. Genau dafür war die Festung einmal gebaut worden.
Identifikation
Kramer machte die Augen auf und wusste sofort, dass außer ihm niemand in der Wohnung war. Er hatte sich auf die Couch gelegt, weil Anette es hasste, mitten in der Nacht geweckt zu werden. Jetzt war sie schon gegangen. Kramer setzte sich auf, sein Schädel brummte. War lang geworden. War gut gewesen. Aber jetzt ärgerte er sich. Anette war nicht da. Sie hatten sich in letzter Zeit nicht sehr häufig gesehen. Kramer gab Anettes Ehrgeiz die Schuld. Sie war Geologin beim »Wissenschaftlich-Technischen Zentrum« der Wismut, und da musste man ehrgeizig sein, wenn man es zu etwas bringen wollte. Also war sie weg und er allein. Kramer schlappte ins Bad und vermied es, in den Spiegel zu sehen. Dann schlappte er in die Küche, immer noch nicht richtig wach. Der Tisch war fein säuberlich für eine Person gedeckt. Sogar eine Thermoskanne stand neben der Kaffeetasse. Auf dem Teller lag ein Zettel mit dem grünen Firmenzeichen der Wismut AG. Darauf stand in zierlicher Handschrift zu lesen: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Daran erkannte Kramer, dass Anette sauer auf ihn gewesen war; wenn sie sauer war, wurde sie schnippisch, und wenn sie schnippisch war, wollte sie Kramer treffen. Ah, dachte er, ah, auf Streit aus also. Ich sollte sie anrufen und ihr die Meinung sagen. Mich hier allein aufwachen zu lassen.
Dann geschah es: Der Gedanke an eine halb ernste, halb spaßhafte Telefon-Diskussion mit Anette löste ein Assoziationskette aus, die über mehrere
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