PolyPlay
aus einer Reihe, die sich mit Finanzdelikten auseinander setzte und hatte den poetischen Titel: Finanzdelikte unter Missbrauch der EDV – Aufdeckung und Untersuchung. Verfasst hatte es ein Autorenkollektiv unter Leitung von Prof. Dr. sc. jur. Konrad Moldenhauer (Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin), lektoriert war es worden vom Oberstleutnant der VP Lutz Weber Scheidel und erschienen war es 1984. Die beiden anderen Bücher hießen: Fortran-Programmierung für lochkartengesteuerte EDV-Systeme und Plan und Programm – Der Siegeszug der Digitaltechnik in der sozialistischen Wirtschaft; beide aus den frühen siebziger Jahren, das zweite eine Übersetzung aus dem Russischen.
Mit einem Wort: lauter Mist. Das Standardwerk zu den Finanzdelikten wollte er mitnehmen, quasi als temporäres Souvenir von seinem Besuch bei dieser einzigartigen Institution. Die Bewältigung des Ausleihvorgangs war noch einmal sehr kompliziert und bedurfte weiterer zehn Minuten, schon das Auffinden des Stempels und eines ausreichend tintengetränkten Stempelkissens war eine Tortur.
»Leihfrist is eene Woche«, beschied ihn die Person. »Verlängern jeht nich.«
Kramer lachte und ging.
Frau Dr. Lorenz war das krasse Gegenteil der namenlosen Bibliothekarin. Rothaarig, gut aussehend, selbstbewusst saß sie in ihrem Chefsessel und freute sich, dass auch mal jemand anders vorbeikam als nur die Kollegen.
»Heribert Konz. Ich hab mir gleich die Akte kommen lassen, nachdem Sie angerufen hatten. Mir war, als sollte mir der Name was sagen, und richtig: Als ich die Akte durchgeblättert habe, fiel's mir wieder ein. War tatsächlich mal einer meiner Patienten, noch vor der Wende. Harry wollte er genannt werden. Wirklich ein Original.«
Kramer gab der Ärztin die Aussage Harrys wieder. Er beschränkte sich dabei auf das Wesentliche. Die Ärztin lächelte ihn wissend an, über den Rand ihrer schlichten und doch teuer wirkenden Brille hinweg.
»Hat er Ihnen also erzählt, er habe einen potentiellen Mörder gesehen? Macht er öfter so. Wenn es nach Harry ginge, hätte er alle Mordfälle in Berlin seit 1980 mehr oder weniger genau beobachtet. Weil er 1980 wirklich mal einen Mord gesehen hat und danach übergeschnappt ist. So ist das mit ihm.«
»Aha. So ist das. Mein Kollege sitzt mit ihm gerade an einem Phantombild.«
Dr. Lorenz lachte. »Rufen Sie ihn am besten gleich an, das ist nutzlos. Harry sieht nicht mehr sehr gut. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Selbst wenn er einmal zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen wäre, hätte er im Wortsinn nicht sehr viel gesehen. Höchstens noch 60%.«
Kramer fiel dazu nichts anderes ein als: »Ach.«
»Ja«, sagte sie. »Die Kollegen, die ihn jetzt normalerweise betreuen, kennen ihn ja recht gut. Sie sagen übrigens, er sei überfällig. Eigentlich ist er jedes Jahr für etwa drei Monate bei uns, dieses Jahr war er noch gar nicht hier. Wenn Sie mit den Kollegen selbst einmal …?«
»Danke, danke«, warf Kramer ein, »das wird nicht nötig sein. Ich denke, das war's dann. Sollte Ihnen sonst irgendetwas zu Harry einfallen, kommen Sie einfach auf mich zu. Telefonnummer, Mobi, E-Mail, alles da.«
Kramer legte seine Karte auf den Tisch und stand auf. Im Nebenraum fiel etwas zu Boden.
Frau Dr. Lorenz erklärte: »Esther, meine Assistentin.« Sie stand ebenfalls auf und streckte ihre Hand aus. »Tja. Danke für Ihren Besuch. Hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Schauen Sie doch gelegentlich mal wieder rein.«
»Frau Doktor«, sagte Kramer, als er ihre Hand ergriff.
Versuchte sie, mit ihm zu flirten? Interessanterweise fand er sich nicht völlig unansprechbar. Attraktive Frau, dachte er. Auch noch mit Mitte fünfzig.
»War ziemlich furchtbar.«
»Jau, weil Harry nicht mehr so viel sieht. Hat mir die Psychiaterin an der Charité erzählt.«
»Ach deswegen hat er immer so komisch die Augen zugekniffen. Na jedenfalls, das Ergebnis kann sich sehen lassen.«
Und das konnte es in der Tat. Kramer hatte schon eine Menge Phantombilder gesehen, und das hier war gut. Detailliert und stimmig, fast so gut wie ein Foto. Wenn Harry auch nicht mehr so viel sah, Typen unterscheiden konnte er immer noch. Der hier war aus einem Guss: »Feiner Pinkel« stimmte genau.
»Trotzdem. Harry ist gaga. Das sagt er selbst, und das sagen alle, die ihn kennen. Und deswegen nützt er uns gar nichts. Nehmen wir einmal an, das ist der Mörder von Michael Abusch. Nehmen wir das nur mal an. Und dann
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