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PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Sicher, es war einiges schief gelaufen, von Anfang an. Die Sache mit den Ekelwessis vor dem China-Restaurant. Der Terz bei dem NKO-Konzert. Und zum Schluss die Panne in Köln. All das waren lässliche Sünden in Kramers Augen, und er war sich im Grunde sicher gewesen, dass Lobedanz genauso dachte. Aber Lobedanz hatte absolut nicht so gedacht. Lobedanz hatte ihm mit Suspendierung gedroht und ihm Zwangsurlaub verpasst, eine Woche mindestens, »bis die Scheiße hier wieder einigermaßen in Ordnung kommt«. Der Fall war jemand anderem übertragen worden. Pasulke hatte ihm traurig in die Augen gesehen und mit den Schultern gezuckt, und Kramer hatte sich in den Zug nach Stralsund gesetzt. Ohne Anette. Die konnte nicht, wegen der Arbeit.
    Auf der Fähre war ihm schlecht geworden, bei fast völliger Windstille und spiegelglatter See. Er hatte das für ein schlechtes Omen gehalten. Seit drei Tagen erfüllte sich dieses Omen, mit tatkräftiger Unterstützung Kramers selbst, denn er mied den Kontakt zu den wenigen anderen Urlaubern (besonders den zu der attraktiven Mittdreißigerin), aß zu viel von dem guten dänischen Eis, was seinem Magen nicht bekam, und tat ansonsten fast nichts, außer auf die Anrufe seiner Frau zu warten. Anette bedauerte ihn aus der Ferne und erzählte ihm, dass ihr Bericht bei Speidel nicht gut angekommen war. Sie musste nachbessern. Auch so Geschichten.
    »Haste schon einen Kurschatten?«, fragte sie ihn.
    »Nee«, sagte er, »hier scheint den ganzen Tag die Sonne. Von allen Seiten.«
    Dänemark hatte sich durch den Tourismus gerettet. Die Spätfolgen der Endachtziger-Krise waren auch hier noch spürbar, aber als Kurbad der reichen DDR kam das Land ganz gut über die Runden. In dem gemütlichen kleinen Städtchen, in dem Kramer Urlaub machte, waren zwar einige Läden geschlossen, aber es gab genug Eisbuden, Restaurants und andere Annehmlichkeiten, die das Touristenleben leicht machten, und die freundlichen Dänen sprachen alle fließend Deutsch. Sie akzeptierten Zahlungen in Mark.
    Kramer wollte nicht viel reden und er wollte auch nicht viel Geld ausgeben, weil der Urlaub unbezahlt war. Das Essen war lecker, sein Zimmer war schön, das Wetter war traumhaft, und Kramer fühlte sich beschissen. Immer wieder musste er an den Abusch-Fall denken. Er wünschte sich sehnlichst einen Clou, einen kriminalistischen Gedankenblitz, mit dem er aus dem Urlaub zurückkehren und seinen Chef davon überzeugen konnte, dass er der richtige Mann für diesen Fall war. Aber da kam nichts. Kein Vorurteil, wie Dr. Schwernik gesagt hätte. Überhaupt, der mit seinem Todesgarten. Kramer wünschte sich mehr als je zuvor, den Mörder von Michael Abusch zu schnappen. Aber er hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, keinen Ansatz, keinen Hebel, Die Kölner hatten sich verdächtig verhalten, sicher, Katharina Abusch wusste einiges, was Kramer auch gerne gewusst hätte, Pasulkes Theorien zu der Stasi-Connection und selbst seine Idee von der Polyplay-Verschwörung waren nicht völlig witzlos, aber es passte einfach nicht. Nichts passte.
    Der Abend brach herein. Kramers Füße waren mittlerweile völlig von Sand bedeckt. Er zog sie mit einem schmatzenden Geräusch heraus und setzte sich in Bewegung, auf einen kleinen Bootssteg zu, den er am ersten Abend seines Urlaubs entdeckt hatte. Auf dem Bootssteg sitzend, schaute er den vereinzelten Seglern zu, die auf dem Wasser der Bucht kreuzten. Am Horizont glitten die Positionslichter größerer Schiffe vorüber. »Lass es doch«, sagte er zu sich selbst. »Du bist draußen aus dem Fall.«
    In den nächsten Tagen bemerkte er, dass dieses Dänemark hervorragend sein »Hüttensyndrom« bediente. So nannte er eine Gemütslage, die sich durch ein gesteigertes Interesse an verfallenen Bauwerken, kleinen Nischen und Winkeln unter alten Brücken, schiefen Gartenhäusern und ähnlichen verlassenen und prekären Örtlichkeiten ankündigte. Das hatte sich nach einem beruflichen Misserfolg, während einer besonders schwierigen Phase mit Anette schon öfter eingeschlichen, und er kannte es mittlerweile: Es war die Suche nach einem Ort, der ihm blieb, wenn alles andere wegbrach. Wohin denn ich?, so hatte der Dichter Hölderlin gefragt – einer der wenigen Textbausteine, die Kramer vom Deutschunterricht geblieben waren. Und wenn es ihm über längere Zeit schlecht ging, dann fielen ihm als Antwort auf diese Frage ein: abgestellte Eisenbahnwaggons, Waldarbeiter-Wagen, die übrig gebliebenen Pfortenhäuser

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