PolyPlay
eigenen Ohren nicht gut. Er wollte etwas sagen wie »Das ist ja wunderbar!« oder »Wie reizend!« Aber auch die ätzendste Form des Sarkasmus schien ihm zu milde. Er wusste sich keinen Rat mehr.
»Du gehst jetzt besser«, sagte er mit einer Stimme, die nicht aus seinem Mund zu kommen schien. Der Nebel vor seinen Augen wurde immer dichter.
»Wie du meinst«, sagte sie und stand auf. Sie wirkte stolz und schön, wie jemand, dem es gut ging. Wie jemand, der weiß, dass er geliebt wird. Kramer konnte nicht hinsehen.
Als sie die Türklinke schon in der Hand hatte, fragte er trotzdem: »Du hast nicht zufällig ein kleines blaues Kästchen aus dem Altpapier genommen?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte sie in einem Tonfall, der Zweifel an seiner geistigen Gesundheit erkennen ließ.
»Hau ab.« Das hier war die alleräußerste Grenze seiner Beherrschung. Er fühlte es genau. Ein Schritt weiter, und er würde sie umbringen. Ihre Schuhe stöckelten noch über den Gang, als er zu zittern begann. Er zwang sich, nicht aus dem Fenster zu sehen.
Das Zittern dauerte noch an, als es eine halbe Stunde später an seiner Tür klopfte.
»Herr Kramer«, keifte die Wirtin von draußen herein. »Dit wollte ick Ihnen noch sahrn: Damenbesuch uff di Zimmer is nich erlaubt. Dit da Klarheit herrscht.«
An diesem Abend betrank er sich bis zur totalen Besinnungslosigkeit.
Der 1. Juli kam und ging. Den Polizeiball ließ er natürlich sausen. Er wollte nichts weniger auf dieser Welt, als Anette und Akkermann beim Tanzen zusehen. Wiener Walzer wie Sissi und Franzi. Schon beim Gedanken daran wurde ihm schlecht.
Statt zum Polizeiball ging er ins Kino und sah sich eine neue Folge von Das unsichtbare Visier an. Sie hieß »Das Todesspiel« und gefiel ihm sogar. Irgendwas über die unverantwortlichen Abenteurer von der »RAF«, die die Stasi vor der Wende von den blutigsten Mordtaten (leider erfolglos) hatte abhalten wollen.
Eine merkwürdige Routine stellte sich ein. Er ging morgens zur Arbeit, als sei er Herr der Lage. Allerdings tat er nichts anderes als lesen oder spielen. Manchmal kam Pasulke herein und erzählte ihm das Neueste von den aktuellen Fällen, damit er nicht ganz ahnungslos war, falls der Chef ihn fragte. Pasulke war immer freundlich und nett, wie bei einem Kranken, dem man nicht zu viel zumuten durfte. Gegenüber den anderen hielt er offenbar dicht, jedenfalls fühlte sich Kramer in der Inspektion weder bemitleidet noch verspottet.
Er entdeckte einen Waschsalon und ein billiges Speiselokal in der Nähe der Pension. Er stattete sich mit Seife aus und mit Büchern, die er schon immer mal hatte lesen wollen. Am Ende der ersten Woche begann er sein Zimmer zu mögen, obwohl er das kaum selber glauben konnte. Die Wirtin war und blieb ein Alptraum, er entdeckte Ameisen unter der Fußleiste, und seine Nachbarn, denen er übrigens nie leibhaftig begegnete, intensivierten ihr Liebesleben noch. Anette lief er nie über den Weg, und das fand er gut. Er war ihr sogar dankbar, dass sie weitere Versuche zur Kontaktaufnahme unterließ. Um die Scheidung konnte man sich auch später noch kümmern.
Er verzieh sich stundenlange Onaniesitzungen und die vertrunkenen Abende. Das war in seiner Situation nur normal. Kramer begann sich zu gewöhnen.
Dann wurde er gefeuert. Eines Tages kam Lobedanz in sein Büro und baute sich vor seinem Schreibtisch auf. Kramer las gerade das Neue Deutschland (Sportnachrichten) und sparte sich die Mühe, wie ein viel beschäftigter Polizist auszusehen. Ohnehin war die Mittagspause noch nicht allzu lange vorbei, und das Lesen einer Zeitung wäre auch unter normalen Umständen nicht allzu ungewöhnlich gewesen. Kramer lächelte, als er das Neue Deutschland auf seinen Schreibtisch legte.
»Ich muss mit dir reden, Rüdiger«, sagte Lobedanz.
»Gern«, antwortete Kramer. Er wusste genau, was kommen würde.
»Wir werden dich entlassen müssen.«
»Ah!«
»Ah? Das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Du bist entlassen, verstehst du? Du kannst froh sein, wenn du um ein Strafverfahren herumkommst!«
»Aber weswegen denn?« Kramer fühlte sich unnatürlich ruhig, geradezu erleichtert. Als habe er etwas eingenommen, um die Wirklichkeit nicht zu nahe an sich heranzulassen. Warum er entlassen werden sollte, wusste er genau. Er meinte die Drohung mit dem Strafverfahren.
»Warum? Weil du dich seit Wochen meinen Anordnungen widersetzt! Ich sage dir, du sollst diesen Abusch-Fall sein lassen, und was
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