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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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schmutzig, durstig. Vielleicht würde es ihr ganzes restliches Leben so sein, dass ihr Körper die Bewegungen des Alltags ausführte, während ihre Seele anderswo war, stets auf der Hut und von ihr getrennt. Vor ihr auf der Straße sah sie eine Menschenmenge, größer als die gewöhnliche Ansammlung von Bittstellern, die stundenlang auf ein paar Worte mit ihrem Vater warteten. Plötzlich schienen die Leute einen seltsamen rituellen Tanz aufzuführen – sie sprangen mit ausgestreckten Armen in die Luft, dann fielen sie auf die Knie und tasteten auf den Steinen herum. Corelia brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass ihnen Geld zugeworfen worden war. Das war typisch für ihren Vater, dachte sie – den Provinz-Caesar, der versuchte, sich die Zuneigung der Menge zu erkaufen, und der sich einbildete, wie ein Aristokrat zu handeln, ohne sich seiner aufgeblähten Vulgarität bewusst zu sein.
    Ihre Verachtung war plötzlich größer als ihr Hass, und das verlieh ihr neuen Mut. Sie ritt zur Rückseite des Hauses, auf die Stallungen zu, und als er den Hufschlag auf dem Pflaster hörte, kam ein ältlicher Pferdeknecht heraus. Er riss vor Überraschung die Augen weit auf, als er bemerkte, wie mitgenommen sie aussah, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie sprang aus dem Sattel und übergab ihm die Zügel. »Danke«, sagte sie zu Polites und dann, zu dem Knecht, »sorge dafür, dass dieser Mann etwas zu essen und zu trinken bekommt.«
    Sie trat rasch aus dem Gleißen der Straße in die Düsternis des Hauses und stieg die Treppe hinauf, die von den Sklavenunterkünften wegführte. Dabei zog sie die Papyrusrollen aus ihrem Umhang. Marcus Attilius hatte sie angewiesen, sie ins Arbeitszimmer ihres Vaters zurückzubringen, in der Hoffnung, dass er ihr Fehlen noch nicht bemerkt hatte. Aber das würde sie nicht tun. Sie würde sie ihm selbst aushändigen. Und was noch besser war – sie würde ihm sagen, wo sie gewesen war. Dann würde er wissen, dass sie die Wahrheit herausgefunden hatte, und anschließend konnte er mit ihr tun, was er wollte. Ihr war es gleich. Was konnte schlimmer sein als das Geschick, das er für sie geplant hatte? Tote konnte man nicht bestrafen.
    Getragen von dem erregenden Gefühl der Auflehnung ging sie durch den Vorhang ins Haus der Popidii und auf das Schwimmbecken zu, das Herzstück der Villa. Sie hörte Stimmen zu ihrer Rechten und sah im Wohngemach ihren künftigen Ehemann und die anderen Magistrate von Pompeji. Die Männer drehten sich im selben Augenblick zu ihr um, in dem ihr Vater, gefolgt von ihrer Mutter und ihrem Bruder, auf den Stufen zu ihrem alten Haus erschien. Ampliatus bemerkte, was sie in den Händen hielt, und einen gloriosen Moment lang sah sie die Panik in seinem Gesicht. Er schrie sie an – »Corelia!« – und kam auf sie zu, aber sie wich ihm aus, lief in das Wohngemach und verstreute seine Geheimnisse auf dem Tisch und dem Teppich, bevor er sie daran hindern konnte.
     
    Attilius hatte das Gefühl, dass der Vesuv ein Spiel mit ihm trieb und nicht näher kam, so rasch er auch auf ihn zuritt. Nur gelegentlich, wenn er sich umsah und seine Augen gegen die Sonne abschirmte, wurde ihm bewusst, welche Höhe er bereits erreicht hatte. Bald hatte er klare Sicht auf Nola. Die bewässerten Felder im Umkreis der Stadt glichen einem grünen Teppich, nicht größer als das Taschentuch einer Puppe, das man auf der braunen Erde Campanias ausgebreitet hatte. Und Nola selbst, eine alte Samniten-Festung, sah aus wie ein Haufen winziger Spielzeugbausteine, die von der fernen Bergkette heruntergeworfen worden waren. Die Einwohner würden jetzt wieder Wasser haben. Dieser Gedanke verlieh ihm neue Zuversicht.
    Er war ganz bewusst auf den nächsten weißgrauen Streifen zugeritten, und er erreichte ihn am späten Vormittag an der Stelle an den unteren Hängen, an der das Weideland endete und der Wald begann. Er begegnete keinem Lebewesen, weder Mensch noch Tier. Die wenigen Bauernhäuser neben dem Pfad waren verlassen. Er vermutete, dass alle Leute geflüchtet waren, entweder in der Nacht, als sie die Explosion hörten, oder bei Tagesanbruch, als sie diese gespenstische Aschedecke vorfanden. Sie lag auf der Erde wie Pulverschnee, völlig still, denn es wehte kein Lüftchen, das sie hätte aufwirbeln können. Als er vom Pferd sprang, stäubte er eine Wolke auf, die an seinen verschwitzten Beinen klebte. Er griff eine Hand voll. Die Asche war geruchlos, feinkörnig, warm von der Sonne. Auf den

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