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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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die man gerade aus dem Feuer gezogen hat. Keine Echsen auf dem Boden, keine Vögel in der Luft – es war ein Anstieg direkt in die Sonne. Er konnte die Hitze durch die Schuhsohlen hindurch fühlen. Ohne zurückzuschauen, zwang er sich zum Weiterklettern, bis der Grund nicht mehr anstieg und das, was vor ihm lag, nicht mehr schwarzer Fels war, sondern blauer Himmel. Er kletterte über den Rand und blickte über das Dach der Welt.
    Das obere Ende des Vesuv war nicht der scharfe Gipfel, den man vom Fuß des Berges aus zu sehen glaubte, sondern eine raue, runde Ebene von vielleicht zweihundert Schritten Durchmesser, eine Wildnis aus schwarzem Gestein mit ein paar bräunlichen Flecken kränkelnder Vegetation, die seine Ödnis noch unterstrichen. Es sah nicht nur so aus, als hätte es hier in der Vergangenheit gebrannt, wie es in dem griechischen Papyrus geheißen hatte, sondern es schien auch jetzt zu brennen. An mindestens drei Stellen stiegen dünne Säulen aus grauem Dampf auf, flackernd und in der Stille zischend. Es herrschte derselbe saure Schwefelgestank wie in den Rohren der Villa Hortensia. Das ist der Ort, dachte Attilius. Dies ist das Herz des Bösen. Er konnte etwas Riesiges und Bösartiges ahnen. Man konnte es Vulkan nennen oder ihm einen beliebigen anderen Namen geben. Man konnte es als Gott verehren. Aber es war fast mit Händen zu greifen. Er schauderte.
    Der Wasserbaumeister hielt sich dicht am Rand des Gipfels und suchte sich seinen Weg um ihn herum, zuerst fasziniert von aus dem Grund hervordringenden Schwefelwolken und dann von dem grandiosen Panorama jenseits des Randes. Zu seiner Rechten erstreckte sich das nackte Gestein bis zum Saum des Waldes, und danach kam nichts außer einer welligen grünen Decke. Torquatus hatte gesagt, dass man von hier aus fünfzig Meilen weit sehen könne, aber Attilius war, als breite sich ganz Italien unter ihm aus. Als er sich von Norden nach Westen bewegte, kam der Golf von Neapolis in sein Blickfeld. Er konnte mühelos das Kap Misenum ausmachen, die ihm vorgelagerten Inseln und die kaiserliche Residenz auf Capri; dahinter, so scharf wie ein Schnitt mit dem Rasiermesser, die dünne Linie, wo das Tiefblau der See auf das hellere Blau des Himmels traf. Auf dem Wasser sah er immer noch die Schaumkronen, die ihm am Vorabend aufgefallen waren – eine Dünung auf einem windlosen Meer –, aber jetzt, da er darüber nachdachte, kam vielleicht doch eine leichte Brise auf. Er konnte sie auf seinen Wangen spüren: ein Nordwestwind, der Caurus genannt wurde und in Richtung Pompeji wehte, das jetzt in der Tiefe zum Vorschein kam und nicht mehr zu sein schien als ein Sandfleck oberhalb der Küste. Er stellte sich vor, wie Corelia dort eintraf, jetzt völlig unerreichbar, ein Punkt innerhalb eines Punktes, für ihn für immer verloren.
    Ihm wurde schon vom bloßen Hinschauen schwindlig, als wäre er selbst nur ein Pollenkörnchen, das jeden Augenblick von der heißen Luft aufgewirbelt und in das Blau davongetragen werden konnte. Er verspürte einen überwältigenden Drang, sich diesem Wirbel hinzugeben, und plötzlich war ein Verlangen nach diesem vollkommenen blauen Vergessen so stark, dass er sich zwingen musste, den Blick abzuwenden. Ein wenig mitgenommen begann er, sich seinen Weg quer über den Gipfel zu suchen, um zu der Stelle zurückzukehren, an der er aufgebrochen war; immer wieder musste er den Schwefelfontänen ausweichen, die sich um ihn herum zu vermehren schienen. Die Erde bebte, wölbte sich auf. Jetzt wollte er von hier fort, so schnell er konnte. Aber das Gelände war uneben, und beiderseits seines Pfades gab es tiefe Senken – »höhlenartige Gruben im geschwärzten Stein«, wie der griechische Autor es ausgedrückt hatte –, und er musste sehr darauf achten, wohin er seine Füße setzte. Und genau deshalb – weil er den Kopf gesenkt hatte – roch er den Toten, bevor er ihn sah.
    Er blieb sofort stehen. Es war ein süßlicher, ekelhafter Gestank, der ihm in Mund und Nase drang und sie wie mit einem Fettfilm überzog. Der Gestank kam aus der großen staubigen Mulde direkt vor ihm. Sie war vielleicht sechs Fuß tief, hatte einen Durchmesser von dreißig Fuß und kochte im Hitzeglast wie ein Kessel. Und das Grauenhafteste, als er über den Rand lugte, war, dass alles darin tot war: nicht nur der Mann, der eine weiße Tunika trug und dessen Gliedmaßen so schwärzlich purpurn waren, dass Attilius zuerst dachte, er wäre ein Nubier; auch andere Geschöpfe – eine

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