Pompeji
für den Aquädukt übernommen hatte, war dies das erste Mal, dass Musa eine Bereitschaft zur Mitarbeit erkennen ließ. Offenbar hatte ihn das Überleben des Wasserbaumeisters tief beeindruckt. Ich sollte öfter von den Toten zurückkehren, dachte Attilius.
Brebix sagte: »Wenigstens ist der Gestank verschwunden.«
Das war Attilius noch nicht aufgefallen. Er schnupperte. Es stimmte. Der durchdringende Schwefelgestank schien mit fortgespült worden zu sein. Er fragte sich, was da vorgegangen war – woher der Geruch ursprünglich gekommen war und weshalb er jetzt verschwunden war –, aber er hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Jemand rief nach ihm, und er stapfte durch das Wasser zum Inspektionsschacht. Es war die Stimme von Corvinus. »Aquarius!«
»Ja?« Das Gesicht des Sklaven zeichnete sich vor einer roten Glut ab. »Was ist?«
»Ich glaube, du solltest heraufkommen und selbst sehen.« Sein Kopf verschwand wieder.
Was war nun los? Attilius ergriff das Tau und testete es vorsichtig, dann begann er zu klettern. In seinem angeschlagenen und erschöpften Zustand war es Schwerstarbeit. Langsam setzte er eine Hand über die andere, schwang sich in den engen Schacht, zog sich hoch, streckte die Arme über den Rand des Einstiegslochs und hebelte sich hinaus in die warme Abendluft.
Während er sich unter der Erde befunden hatte, war der Mond aufgegangen – riesig, voll und rot. Er glich den Sternen in diesem Teil der Welt: Wie überhaupt alles wirkte er unnatürlich und aufgebläht. Jetzt waren an der Oberfläche Anzeichen reger Betriebsamkeit zu erkennen: Haufen von dem Geröll, das sie aus dem Tunnel herausgeholt hatten, zwei große Feuer, die ihre Funken mondwärts schleuderten, in die Erde gerammte Fackeln, die für zusätzliches Licht sorgten, die herangeholten und weitgehend entladenen Karren. Im Licht des Mondes konnte er einen Schlammrand erkennen, der den flachen, jetzt fast gänzlich entleerten See umgab. Die Sklaven von Ampliatus' Arbeitstrupp lehnten an den Karren und warteten auf Befehle. Sie musterten ihn neugierig, als er sich auf die Füße mühte. Ihm wurde bewusst, dass er einen hübschen Anblick bieten musste – durchnässt und verdreckt. Er rief in den Tunnel hinein und wies Musa an, heraufzukommen und dafür zu sorgen, dass die Männer weiterarbeiteten, dann sah er sich nach Corvinus um. Er stand ungefähr dreißig Schritte entfernt, in der Nähe der Ochsen, mit dem Rücken zu dem Einstiegsloch. Attilius rief ihn ungeduldig an.
»Was gibt es?«
Corvinus drehte sich um, und statt einer Erklärung trat er beiseite und gab den Blick auf eine Gestalt in einem Kapuzenumhang hinter ihm frei. Attilius ging auf sie zu. Erst als er näher herankommen war und die fremde Person ihre Kapuze zurückschlug, erkannte er sie. Er hätte nicht verblüffter sein können, wenn Egeria, die Göttin der Wasserquellen, plötzlich im Mondlicht aufgetaucht wäre. Sein erster Gedanke war, dass sie mit ihrem Vater gekommen sein musste, und er schaute sich nach anderen Reitern, anderen Pferden um. Aber da war nur ein Pferd, das geruhsam das dünne Gras abweidete. Sie war allein, und als er sie erreicht hatte, hob er überrascht die Hände.
»Corelia – was tust du hier?«
»Sie wollte mir nicht sagen, was sie will«, warf Corvinus ein. »Sie hat gesagt, sie will nur mit dir reden.«
»Corelia?«
Sie deutete mit einem argwöhnischen Nicken auf Corvinus, legte einen Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Siehst du jetzt, was ich meine? Von dem Moment an, als sie gestern aufkreuzte, habe ich gewusst, dass wir durch sie nur Ärger bekommen …«
»Schon gut, Corvinus. Das reicht. Geh wieder an die Arbeit.«
»Aber …«
»An die Arbeit!«
Als der Sklave davontrottete, betrachtete Attilius sie genauer. Verschmutztes Gesicht, in Unordnung geratene Haare, Umhang und Kleid mit Schmutz bespritzt. Aber es waren ihre Augen, unnatürlich groß und funkelnd, die ihn am meisten beunruhigten. Er ergriff ihre Hand. »Das ist kein Ort für dich«, sagte er leise. »Was tust du hier?«
»Ich wollte dir das hier bringen«, flüsterte sie und begann, mehrere kleine Papyrusrollen aus den Taschen ihres Umhangs zu ziehen.
Die Dokumente unterschieden sich in Alter und Zustand. Sechs waren es ingesamt, klein genug, um in die Beuge eines Arms zu passen. Attilius ergriff eine Fackel und entfernte sich zusammen mit Corelia von dem geschäftigen Treiben am Aquädukt, bis sie eine verschwiegene Stelle hinter
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