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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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einem der Karren erreicht hatten und das überflutete Gelände überblicken konnten. Auf dem, was von dem See noch übrig war, lag ein schwankender Streifen Mondlicht, so breit und so gerade wie eine römische Straße. Vom anderen Ende kamen das Rauschen von Flügeln und die Schreie der Wasservögel.
    Er zog ihr den Umhang von den Schultern und breitete ihn auf dem Boden aus, damit sie darauf sitzen konnte. Dann rammte er den Griff der Fackel in die Erde und entrollte das älteste der Dokumente. Es war der Plan eines Abschnitts der Augusta – genau dieses Abschnitts: Pompeji, Nola und der Vesuv waren mit Tusche eingezeichnet, die von Schwarz zu Blassgrau verblichen war. Der Plan war mit dem Siegel des Göttlichen Augustus abgestempelt, als wäre er begutachtet und amtlich gutgeheißen worden. Eine Planzeichnung. Original. Mehr als ein Jahrhundert alt. Vielleicht hatte der große Marcus Agrippa sie einmal selbst in den Händen gehalten? Attilius drehte den Plan um. Ein derartiges Dokument konnte nur aus einem von zwei Orten stammen: entweder dem Archiv des Curator Aquarum in Rom oder dem der Piscina mirabilis in Misenum. Er rollte es behutsam wieder auf.
    Die nächsten drei Papyri enthielten fast ausschließlich Zahlenkolonnen, und er brauchte eine Weile, um einen Sinn darin zu entdecken. Der eine trug die Überschrift Colo nia Veneria Pompeianorum und war in Jahre unterteilt – DCCCXIV, DCCCXV und so weiter; er umfasste fast zwei Jahrzehnte und war in weiteren Aufzeichnungen, Zahlen und Summen unterteilt. Die Summen wuchsen ständig an, bis sie sich in dem Jahr, das am letzten Dezember geendet hatte – dem achthundertdreiunddreißigsten Roms – verdoppelt hatten. Das zweite Dokument schien auf den ersten Blick mit dem ersten identisch zu sein, bis er es genauer betrachtete und erkannte, dass sämtliche Zahlen nur ungefähr halb so groß waren wie die auf dem ersten. So war zum Beispiel die auf dem ersten Papyrus eingetragene Gesamtsumme von dreihundertzweiundfünfzigtausend auf dem zweiten auf einhundertachtundsiebzigtausend geschrumpft.
    Das dritte Dokument machte einen weniger amtlichen Eindruck. Es sah aus wie die monatliche Aufzeichnung des Einkommens eines Mannes. Auch dieses enthielt Zahlen aus fast zwei Jahrzehnten, und wieder stiegen die Summen allmählich an, bis sie sich nahezu verdoppelt hatten. Und es war ein gutes Einkommen – allein im letzten Jahr an die fünfzigtausend Sesterzen, insgesamt vielleicht eine Drittelmillion.
    Corelia saß mit angezogenen Knien neben ihm. »Und? Was haben sie zu bedeuten?«
    Attilius ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er fühlte sich beschmutzt: Die Schande eines Mannes war die Schande von ihnen allen. Und wer konnte sagen, wie weit sich die Verderbtheit ausgebreitet hatte? Aber dann dachte er: Nein, bis ganz nach oben, bis nach Rom kann sie nicht gedrungen sein, denn wenn Rom seine Finger im Spiel hätte, wäre Aviola nie auf die Idee gekommen, ihn nach Misenum zu schicken. »Das hier sieht aus wie die Aufzeichnung der Wassermengen, die in Pompeji tatsächlich verbraucht wurden.« Er zeigte ihr den ersten Papyrus. »Dreihundertfünfzigtausend Quinariae im letzten Jahr – das dürfte für eine Stadt von der Größe Pompejis ungefähr zutreffen. Und diese zweite Aufstellung dürfte diejenige sein, die mein Vorgänger Exomnius nach Rom geschickt hat. Dort dürfte der Unterschied nicht aufgefallen sein, zumal nach dem Erdbeben, solange sie niemanden herschickten, der es überprüfte. Und das hier« – er versuchte, sich seine Verachtung nicht anmerken zu lassen, als er das dritte Dokument schwenkte – »ist das, was dein Vater ihm gezahlt hat, damit er den Mund hält.« Sie sah ihn bestürzt an. »Wasser ist teuer«, erklärte er, »vor allem, wenn man die halbe Stadt wieder aufbaut. ›Mindestens so wertvoll wie Geld‹ – das hat dein Vater zu mir gesagt.« Zweifellos hatte es den Unterschied zwischen Profit und Verlust bedeutet. Salve lucrum.
    Er rollte die Papyri wieder auf. Jemand musste sie aus dem schäbigen Zimmer über der Schenke gestohlen haben. Er fragte sich, warum Exomnius das Risiko eingegangen war, derart belastende Aufzeichnungen in seiner Wohnung aufzubewahren. Aber dann dachte er, dass Belastung genau das gewesen war, was Exomnius im Sinne gehabt hatte. Sie hätten ihm eine Menge Macht über Ampliatus gegeben: Komm bloß nicht auf die Idee, dich gegen mich zu wenden – mich zum Schweigen zu bringen, mich aus dem Geschäft zu drängen oder mir mit

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