Poor Economics
Urin zum Arzt als mit Fieber oder Durchfall. In Delhi geben die Armen genauso viel Geld für kurzzeitige Erkrankungen
aus wie die Reichen, doch die Reichen stecken viel mehr in die Behandlung chronischer Krankheiten. 34 Vermutlich gehören Schmerzen in der Brust ebenso wie Schlaganfälle daher automatisch zu den »Bhopa -Krankheiten« (eine alte Frau hat uns einmal erklärt, es gebe Bhopa -Krankheiten und Doktor-Krankheiten, die Bhopa -Krankheiten würden von Geistern verursacht und müssten von einem traditionellen Heiler behandelt werden), weil die meisten Leute es sich nicht leisten können, sie von Ärzten behandeln zu lassen.
Aus demselben Grund sind vermutlich in Kenia traditionelle Heiler und Schamanen (die ihre Dienstleistungen auf handgemalten Plakaten in jeder Stadt anpreisen) für die Behandlung von HIV und AIDS so gefragt. Ein Schulmediziner konnte lange nicht wirklich etwas für die Kranken tun – zumindest nicht, bis die antiviralen Medikamente halbwegs bezahlbar wurden –, also warum sollte man es nicht mit einem traditionellen Heiler und seinen Kräutern und Gebeten versuchen? Das kostete nicht viel und gab dem Patienten zumindest das Gefühl, etwas getan zu haben. Und da Symptome und opportunistische Infektionen kommen und gehen, konnte man wenigstens eine gewisse Zeitlang glauben, dass die Behandlung eine Wirkung hatte.
Nicht nur die Armen greifen nach jedem Strohhalm. Auch die kleine, privilegierte Oberschicht armer Länder oder die Menschen der Ersten Welt probieren alles Mögliche aus, wenn sie sich mit einem Problem konfrontiert sehen, für das sie keine Lösung wissen. Depressionen und Rückenschmerzen sind in den USA weitverbreitete Krankheiten, die einerseits therapeutisch schwer zu fassen sind und andererseits das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen. Aus diesem Grund pendeln Amerikaner ständig zwischen Psychiatern und spirituellen Heilern, Yoga-Kursen und Chiropraktikern. Da es bei beiden Erkrankungen gute und schlechte Zeiten gibt, durchlaufen die Kranken zyklisch Phasen von Hoffnung und Enttäuschung; bei jedem neuen Heilungsansatz wollen sie glauben, dass es jetzt endlich funktioniert.
Vorstellungen, die aus Gewohnheit und Bequemlichkeit aufrechterhalten
werden, können wesentlich flexibler gehandhabt werden als echte Überzeugungen. Das war in Udaipur gut zu beobachten: Die meisten, die wegen einer Krankheit zum bhopa gehen, suchen auch einen bengali doctor und ein staatliches Krankenhaus auf; es scheint sie nicht im Mindesten zu stören, dass es sich dabei um völlig verschiedene und miteinander nicht vereinbare »Glaubenssysteme« handelt. Die Leute sprechen zwar von Bhopa -Krankheiten und Doktor-Krankheiten, doch wenn die Erkrankung andauert, beharren sie nicht auf dieser Einteilung und nutzen beide Systeme.
Die Frage, welche Vorstellungen die Menschen umtreiben, wurde intensiv diskutiert, als man bei Seva Mandir überlegte, wie sich der Erfolg der Impfkampagne verbessern ließe, da trotz der sehr gut organisierten, monatlichen Impfcamps vier Fünftel der Kinder ohne vollen Impfschutz geblieben waren. Einige der ortsansässigen Fachleute meinten, das Problem sei der Aberglaube der Leute. Die Impfaktion passe da nicht hinein, weil man im ländlichen Udaipur – aber auch andernorts – glaube, dass Kinder sterben, weil der böse Blick sie getroffen hat. Wegen der Gefahr, vom bösen Blick getroffen zu werden, nehmen Eltern ihre Kinder im ersten Lebensjahr nicht mit ins Freie. Unter diesen Umständen, so die skeptischen Experten, würde es wohl extrem schwer werden, die Dorfbewohner zur Impfung ihrer Kinder zu bewegen.
Trotz dieser starken Einwände gelang es uns, Neelima Khetan, die Geschäftsführerin von Seva Mandir, zu einem Pilotprojekt zu überreden, als die Organisation in Udaipur ihre Impfcamps einrichtete: Für jede Impfung sollte es zwei Pfund Dal geben (getrocknete Hülsenfrüchte, ein Grundnahrungsmittel in dieser Gegend) und für jede vollständige Impfserie ein Pfannenset aus rostfreiem Stahl. Der bei Seva Mandir für das Gesundheitsprogramm verantwortliche Arzt war zunächst ziemlich skeptisch. Einerseits schien es nicht richtig, die Leute mit »Bestechung« dazu zu bringen, das Richtige zu tun. Sie sollten selbst herausfinden, was gut für ihre Gesundheit ist. Andererseits schien der von uns
vorgeschlagene Anreiz viel zu gering zu sein: Wenn die Leute ihre Kinder nicht impfen lassen, obwohl der Nutzen dieser Maßnahme sehr groß ist, dann müssen sie
Weitere Kostenlose Bücher