Poor Economics
die Aufgabe, das komplizierte Sozialhilfesystem zu reformieren, das sich aus mehreren Programmen zusammensetzte. Er wollte den Bezug von Sozialleistungen
mit einer Investition in Humankapital (Bildung und Gesundheit) verknüpfen, da er davon überzeugt war, dass das heute ausgegebene Geld langfristig zur Bekämpfung der Armut beitragen kann, indem es das Heranwachsen einer gesunden und gebildeten jungen Generation fördert. Dieser Gedanke steht hinter dem Transferprogram PROGRESA; es war das erste sogenannte conditional cash transfer program, das den Bezug von Sozialleistungen ( transfer ) in Bargeldform ( cash ) an bestimmte Bedingungen ( conditions ) knüpfte. Arme Familien erhielten nur dann Geld, wenn sie ihre Kinder regelmäßig in die Schule schickten und zur Gesundheitsvorsorge gingen. Die Zahlungen fielen höher aus, wenn die Kinder die Sekundarstufe besuchten oder wenn das Schulkind ein Mädchen war. Um die politische Akzeptanz zu verbessern, wurden die Zahlungen als »Entschädigung« für den Einkommensverlust dargestellt, den die Familie erlitt, wenn die Kinder in die Schule statt zur Arbeit gingen. In Wirklichkeit sollten die Familien dadurch »angestupst« werden, dass es für sie finanzielle Einbußen mit sich bringen würde, wenn sie die Kinder nicht zur Schule schickten – völlig unabhängig davon, was sie von Bildung hielten.
Santiago Levy hatte noch ein anderes Ziel: Er wollte sicherstellen, dass das Programm die alle paar Jahre stattfindenden Regierungswechsel überlebt, denn üblicherweise strich der neue Präsident erst einmal alle Programme seines Vorgängers, bevor er eigene auf den Weg brachte. Wenn das Programm nachweislich großen Erfolg hatte, so Levys Überlegung, könnte es eine neue Regierung nicht so einfach kassieren. Also organisierte er ein Pilotprojekt in zufällig ausgewählten Dörfern (als Kontrolle dienten ähnlich strukturierte Dörfer, in denen alles beim Alten blieb); so wurde es möglich, die Folgen in Dörfern mit und ohne an Bedingungen gebundenen Bargeldtransfer zu vergleichen. Das Pilotprojekt demonstrierte nachdrücklich, dass der Schulbesuch dank des Programms deutlich anstieg, vor allem in der Sekundarstufe: Bei den Mädchen stieg er hier von 67 auf 75 Prozent, bei den Jungen von 73 auf 77 Prozent. 11
Dies war zugleich eines der ersten Beispiele für die Überzeugungskraft von randomisierten Feldversuchen. Als die Regierung, wie zu erwarten war, wechselte und Vicente Fox an die Macht kam, überlebte das Programm, es erhielt lediglich einen neuen Namen: Oportunidades. Was Levy jedoch vermutlich nicht vorhergesehen hatte: Damit hatte er auch zwei neue Traditionen begründet. Erstens breitete sich der an Bedingungen gebundene Bargeldtransfer wie ein Flächenbrand erst über ganz Lateinamerika und dann über den Rest der Welt aus – sogar der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg probierte es damit. Zweitens unternehmen auch andere Länder, bevor sie ihre CCT-Programme starten, zunächst einen oder mehrere randomisierte Vorversuche, um sie zu testen. Dabei werden manchmal einzelne Elemente des Programms variiert, um herauszufinden, wie man es optimieren kann.
Paradoxerweise brachte uns gerade einer dieser Folgeversuche in Malawi dazu, noch einmal über den Erfolg von PROGRESA nachzudenken. Die Knüpfung bestimmter Leistungen an Bedingungen wurde in PROGRESA eingebaut, weil ein höheres Einkommen des Kindes in der Zukunft als Anreiz nicht ausreicht und die Eltern einen sofort wirksamen Anreiz brauchen. Wissenschaftler und Praktiker fragten sich, ob ein Programm ohne Bedingungen denselben Effekt hätte wie eines mit. Es klingt provokativ, aber eine von der Weltbank initiierte Studie fand heraus, dass die Bedingungen offenbar nicht die geringste Rolle spielen. In dem Experiment erhielten Familien mit Mädchen im Schulalter Transferleistungen zwischen 5 und 20 PPP-USD pro Monat. In der einen Gruppe gab es das Geld nur, wenn das Kind die Schule besuchte, in der zweiten wurde es ohne Bedingung gezahlt. Eine dritte Gruppe, die als Kontrollgruppe diente, erhielt keine Transferleistungen. Nach einem Jahr hatten 11 Prozent der Mädchen aus der Kontrollgruppe die Schule abgebrochen, aber nur 6 Prozent aus den Transfergruppen. Interessanterweise unterschieden sich die beiden Transfergruppen im Ergebnis nicht. Das heißt, es war nicht nötig, die Eltern durch eine Bedingung dazu zu zwingen,
ihre Kinder zur Schule zu schicken, das Einzige, was sie brauchten, war
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