Poor Economics
Höhe des Darlehens ab. Selbst wenn es sich nur um einen kleinen Kredit handelt, kommt man nicht umhin, eine Reihe von Informationen über den potenziellen Kunden einzuholen. Je kleiner das Darlehen, desto größer ist (im Verhältnis dazu) der Aufwand für Information und Überwachung, und desto höher wird der Zinssatz ausfallen, weil diese Kosten mit den Zinsen gedeckt werden müssen.
Als ob das nicht schlimm genug wäre, setzt damit ein Prozess ein, den die Ökonomen als »Multiplikatoreffekt« bezeichnen: Wenn der Zinssatz steigt, versucht sich der Kreditnehmer noch eher um die Rückzahlung des Kredits zu drücken. Das heißt, er muss noch sorgfältiger überwacht werden, was wieder die Kosten
für den Kreditgeber erhöht. Dadurch steigt der Zinssatz noch weiter, was noch stärkere Kontrolle nötig macht und so weiter. Es entsteht so etwas wie ein Aufwärtssog, und die Zinsen können förmlich explodieren. Oder – und das geschieht in der Praxis häufig – der Kreditgeber stellt fest, dass es sich nicht rechnet, Geld an Arme zu verleihen. Ihre Kredite sind zu klein, um rentabel zu sein.
Damit wird so manches klarer. Weil die Kosten der Informationsbeschaffung die stärkste Einschränkung für die Kreditvergabe an Arme darstellen, ist es plausibel, dass sie meistens bei Menschen Geld leihen, die sie bereits kennen: Nachbarn, Arbeitgeber, Geschäftspartner oder örtliche Geldverleiher. So merkwürdig es klingt, Arme leihen manchmal bei Leuten Geld, die ihnen richtig schaden können, wenn sie nicht zahlen: weil solche Geldverleiher weniger Zeit aufbringen müssen, um ihre Kunden zu überwachen (die trauen sich nämlich nicht wegzulaufen), und darum einen niedrigeren Zinssatz anbieten können. Im Kalkutta der sechziger und siebziger Jahre waren viele Geldverleiher sogenannte kabuliwalas (Männer aus Kabul). Diese hochgewachsenen Männer in afghanischer Tracht pflegten mit einer über der Schulter hängenden Stofftasche von Tür zu Tür zu gehen, vorgeblich um getrocknete Früchte und Nüsse zu verkaufen, in Wirklichkeit jedoch, um unter der Hand Geldgeschäfte zu tätigen. Aber warum lieh man sich das Geld nicht bei jemandem aus dem Ort? Sehr wahrscheinlich weil diese Männer den Ruf hatten, wild und unerbittlich zu sein, ein Stereotyp, das in einer Geschichte zementiert wird, die alle bengalischen Kinder aus ihrem Lesebuch kennen. Darin tötet ein gutherziger, aber gewalttätiger kabuliwala jemanden, der versuchte, ihn zu betrügen. Dieselbe Logik erklärt, weshalb die Mafia in den USA für viele Menschen der »Kreditgeber letzter Instanz« war.
Ein plastischeres Beispiel für die Macht, die einer Drohung innewohnt, ist in einer Geschichte nachzulesen, die am 22. August 1999 im Londoner Sunday Telegraph abgedruckt war. Die Überschrift lautete: Pay Up – or We Will Send the Eunuchs to See You. 6
(»Gib das Geld zurück – oder wir schicken die Eunuchen bei dir vorbei«) Der Artikel beschreibt, wie sich Schuldeneintreiber in Indien eines alten Aberglaubens über Eunuchen bedienen, um säumige Schuldner endlich zur Zahlung zu bewegen. Da die Leute glauben, es bringe Unglück, die Genitalien eines Eunuchen zu sehen, erhalten diese die Anweisung, vor dem Haus des Schuldners zu erscheinen und damit zu drohen, »blankzuziehen«, wenn dieser sich weiter unkooperativ zeige.
Mit den hohen Kosten der Informationsbeschaffung über den potenziellen Kunden lässt sich auch erklären, weshalb es in jedem Dorf mehrere Geldverleiher gibt; der Wettbewerb drückt die Preise für Kredite nicht. Sobald ein Geldverleiher einen Kunden auf Herz und Nieren geprüft und dieser einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen hat, wird es schwierig zu wechseln. Wenn der Schuldner zu einem anderen Geldverleiher gehen wollte, müsste dieser mit der Überprüfung wieder von vorne anfangen, was teuer wäre und die Zinsen in die Höhe triebe. Zudem würde der Geldverleiher den neuen Kunden argwöhnisch betrachten: Warum gibt jemand eine vorhandene Geschäftsbeziehung auf, obwohl es für ihn dadurch teurer wird? Der Geldverleiher wäre in dem Fall doppelt vorsichtig, was sich wiederum im Zinssatz niederschlüge. Das heißt, dass Kreditnehmer mehr oder weniger an den Geldverleiher gebunden sind, den sie kennen, obwohl sie theoretisch die Wahl zwischen mehreren hätten. Diesen Umstand nutzen Geldverleiher ebenfalls zu ihrem Vorteil aus.
Damit wird auch klar, warum Banken kein Geld an Arme verleihen. Bankangestellte sind nicht in der Lage,
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