PopCo
Also habe ich angefangen, Bewerbungen zu verschicken,
ziemlich wahllos eigentlich. Die meisten Leute aus meinem Jahrgang arbeiteten damals in Call-Centern oder irgendwelchen Vertriebsbüros,
das schienen die einzigen Jobs zu sein, die man mit einem geisteswissenschaftlichen Studium und ohne große Berufserfahrung
kriegen konnte. Ich habe mich sogar bei Fastfood-Restaurants beworben, kannst du dir das vorstellen? Irgendwie hatte ich die
Idee, mir den allerkapitalismusfreundlichsten Job überhaupt zu suchen, um das System dann von innen heraus sabotieren zu können.
Aber solche Läden stellen aus Prinzip keine Philosophiestudenten ein. Na, jedenfalls hatte ich mich auch bei ein paar Videospielfirmen
beworben, und eine davon hat tatsächlich geantwortet. Mit meinen Programmierkünsten war ich damals zwar nicht mehr so ganz
auf der Höhe der Zeit, aber mein Abschluss und mein sonstiger Lebenslauf haben den Leuten offenbar gefallen. Jedenfalls steckten
sie mich als Plot-Entwickler, Skriptdoktor und Teekocher in die Rollenspielabteilung. Ein Jahr danach wurde die Firma von
PopCo aufgekauft, und ich konnte allein mit dem Bonus die halbe Hypothek meiner Eltern abbezahlen. Die PopCo-Leute fanden
mich gut und haben mich kurz darauf mit Chloë zusammengespannt, damit wir ganz selbständig ein eigenes Spiel entwickeln. Das
war die
Sphärenwelt
. Und deshalb sitze ich jetzt hier.»
Ich habe meinen Tee schon länger ausgetrunken und greifejetzt nach dem kleinen Fläschchen mit dem Arsenicum. Bei homöopathischen Mitteln muss der Mund nüchtern sein, deshalb sollte
man mindestens fünf Minuten mit der Einnahme warten, wenn man Tee oder sonst etwas getrunken hat. Ich lasse eins der Kügelchen
in den Deckel gleiten und lege es mir auf die Zunge. Im Hintergrund liest immer noch die Polin aus
Neuromancer
vor, inzwischen mit Miles Davis im Hintergrund.
«Ich bin froh, dass wir uns getroffen haben», sage ich.
«Ich auch.»
«Wenn ich mich nur nicht so krank fühlen würde …»
«Was hast du denn da gerade genommen?»
«Arsenicum. Ein homöopathisches Mittel. Ich glaube zwar nicht, dass es das richtige ist, aber es ist immerhin nah dran, und
ich habe auch nichts anderes dabei.»
«Was passiert denn, wenn es nicht das richtige Mittel, sondern nur nah dran ist?»
«Dann wirkt es einfach nicht richtig. Aber wie gesagt, ich habe nichts anderes.»
Ben macht ein besorgtes Gesicht. «Und wo könntest du das richtige Mittel kriegen?»
«Im Internet. Wenn es eine niedrigere Potenz ist, auch in der Drogerie. Aber ich weiß ja nicht mal, was das richtige Mittel
wäre. Dafür müsste ich erst alle meine Symptome notieren und nachschlagen. Aber nachdem ich meine Bücher auch nicht hier habe …»
«Gibt es noch andere Möglichkeiten?»
«Ja, schon. Es gibt Online-Repertorien. Aber wir haben hier ja kein Internet, da muss ich mich eben so durchschlagen.» Ich
lächele ihn an. «So schlimm ist es auch gar nicht. Wobei ich allerdings wirklich gern Nikotinkaugummis hätte. Und …» Ich seufze. «Ich habe schreckliche Lust auf Süßigkeiten. Ich weiß auch nicht. Schon blöd, dass es hier keine Läden in der
Nähe gibt.»
«Ich könnte doch was für dich einkaufen.»
«Nein, das brauchst du nicht …»
Ben steht auf und rückt sich die schwarze Brille zurecht. «Warte mal», sagt er. «Mir kommt gerade eine Idee. Ich glaube, ich
weiß, wie ich dich ins Internet bringen kann. Ich bin gleich wieder da.» Damit geht er aus dem Zimmer.
Wenn er mich tatsächlich ins Internet bringt (obwohl ich mir gar nicht vorstellen kann, wie er das anstellen will), sollte
ich schon mal meine Symptome auflisten, damit ich sie auch nachschlagen kann. Wie fühle ich mich? Es ist seltsam, die eigenen
Symptome zu klassifizieren und sich selbst ein Mittel zu verordnen, aber was bleibt mir anderes übrig?
Also, Alice, wie fühlst du dich?
Beschissen.
Geht das vielleicht etwas genauer?
Ich überlege, wie ich mich einem Patienten gegenüber verhalten würde. Natürlich hatte ich noch nie Patienten, zumindest keine
richtigen. Ich habe Atari homöopathische Mittel verordnet und Rachel und Dan. So läuft das oft mit der Homöopathie. Irgendwer
eignet sich das nötige Wissen an und verarztet dann nebenbei Freunde, Kollegen und Verwandte, wie die Kräuterhexe von nebenan.
Ich sehe mich selbst mit wallendem Mantel und Drudenfuß und muss grinsen. Aber so komme ich nicht weiter. Ich hole mir mein
Notizbuch und
Weitere Kostenlose Bücher