PopCo

nach deren Spruch ‹Sollen sie doch Kuchen essen›. Ich glaube, die
     fangen da unten langsam an, sich zu langweilen. Außerdem habe ich grünen Gunpowder-Tee mitgebracht. Ich stehe zur Zeit total
     auf Gunpowder.»
    «Ich liebe grünen Tee», sage ich, und Ben reicht mir mein Tablett. «Das sieht toll aus. Und das ist jetzt alles   …?»
    «Vegan? Na klar.»
    «Cool.»
    «Wollen wir Radio hören?»
    «Ja», sage ich. «Es steht da drüben auf der Fensterbank.»
    Ben steht wieder auf. «Welchen Sender denn?»
    «Hm   … Für Radio 3 ist es eigentlich noch zu früh. Ich weiß auch nicht. Radio 4 vielleicht? Such einfach du was aus.»
    Ben dreht am Senderknopf und schaltet von FM auf Kurzwelle. Nach einigem Knistern und Summen erklingt unvermittelt ein eindringlicher
     Bass, in den sich ätherische Flöten mischen. Die beiden Melodien, die hohe und die tiefe, schlingen sich ineinander wie die
     Fangarme eines Außerirdischen.
    «Cool», sagt Ben. «Sie sind auf Sendung.»
    «‹Sie›? Was ist denn das?»
    «Zion Radio.»
    «Ein Piratensender?»
    «So was in der Art. Wie im Prinzip alle Kurzwellensender.»
    «Zion, wie die Kolonie aus
Neuromancer
?»
    «Genau. Der Sender wird von zwei Doktoranden aus Polen betrieben. Sie spielen Math-Rock, experimentellen Jazz, Klassik, Drum
     & Bass, und sie – ah, jetzt geht’s los.»
    Über den Musiktrack legt sich eine Frauenstimme.
    «Das ist ja Polnisch», sage ich.
    «Wart’s ab», sagt Ben.
    Die Stimme verstummt kurz und spricht dann auf Englisch weiter. Im Hintergrund setzt leise ein neues Musikstück ein.Es ist eine Bach-Fuge – eins von den Stücken, die meine Großmutter immer gehört hat. Dazu werden immer wieder leise Trommelrhythmen
     ein- und ausgeblendet. Die Frau spricht weiter, ihr polnischer Akzent macht die englischen Wörter runder und weicher. Mir
     wird klar, dass sie etwas vorliest, und ich merke auch schnell, dass es etwas von William Gibson sein muss, aber ich bin mir
     nicht ganz sicher, was es ist. Dann höre ich den Namen
Wintermute
und muss lächeln.
    «Sie liest
Neuromancer
», sage ich versonnen.
    «Ja. Das machen sie fast jeden Abend. Sie lesen nie das ganze Buch und auch nicht immer dasselbe; sie lassen einfach Musik
     laufen und lesen vor, was ihnen an dem Abend gerade einfällt. Das ist genial.»
    «Ich find’s auch toll», sage ich. Es ist eine ganz eigentümliche Erfahrung, hier beim Essen zu sitzen, während eine Polin
     auf dem Kurzwellensender William Gibson vorliest – im besten Sinne eigentümlich. Ich probiere das Püree. «Wow! Das ist aber
     lecker.»
    «Die Köche hier sind ziemlich gut.»
    Eine Zeitlang hören wir schweigend dem Radio zu und genießen unser Essen.
    «Ben?», sage ich schließlich.
    «Ja?»
    «Danke, dass du dich so um mich kümmerst.»
    Er lächelt zurück. «Immer gerne», sagt er und isst den letzten Bissen seines Zwiebeltörtchens. «Magst du das wirklich?», fragt
     er dann.
    «Was meinst du?»
    «Diese Gibson-Sache.» Er deutet auf das Radio.
    «Oh ja. Und in der Form erst recht. Ich habe meine Abschlussarbeit an der Uni über Cyberpunk-Literatur geschrieben.»
    «In welchem Fach?»
    «Englisch.»
    «Und ich dachte, du hättest Mathe oder so was studiert.»
    Ich muss lächeln. «Da bist du nicht der Einzige. Violet dachte das auch. Ich kenne mich nur ein bisschen mit Mathe aus, weil
     meine Großmutter Mathematikerin war.»
    «Sie
war
Mathematikerin?»
    «Sie ist gestorben, kurz nachdem ich mit dem Studium fertig war.»
    Ich erzähle ihm, dass ich bei meinen Großeltern aufgewachsen bin und wie gut ich es bei ihnen hatte, obwohl ich das keineswegs
     immer zu schätzen wusste. Dann erzähle ich ihm vom Tod meiner Mutter und von meinem verschwundenen Vater. Selbst in der Kurzfassung
     dauert das fast eine Stunde. Inzwischen wird es bereits dunkel draußen, der Vogel hat endgültig aufgehört zu singen, und Ben
     raucht am Fenster eine Zigarette, während ich gierig passiv mitrauche. Wir trinken unseren Gunpowder-Tee.
    «Und dein Vater ist einfach so fortgegangen?»
    «Ja.»
    «Ohne Erklärung?»
    «Ja.» Ich will Ben nichts von dem Medaillon und dem ganzen Kram erzählen. Dafür gibt es mehr als genug Gründe, doch ausschlaggebend
     ist für mich im Moment, dass er mich faszinierend und spannend finden soll, nicht meine Vergangenheit. Falls das nicht möglich
     ist, können wir das Programm auch gleich wieder abbrechen. Ich werde ganz sicher keine künstliche Endlosschleife in diese
     Beziehung einbauen.