PopCo
einen Stift und schlage eine neue Seite auf, die ich oben mit meinem Namen und dem heutigen Datum beschrifte.
Während ich auf die neue Seite blättere, stoße ich wieder auf meine Idee: seitenweise ungeordnete Notizen und Diagramme. Taugt
dieser Einfall etwas? Interessiert mich das überhaupt? Keine Ahnung.
Um notieren zu können, was einem an sich selbst auffällt, muss man zum unbeteiligten Beobachter werden. Die Idee mit der Kette
zeigt, dass mein Gehirn aktiv ist. Ist es womöglich übermäßig aktiv? Da bin ich mir schon nicht mehr sicher. Vielleicht sollte
ich vor den Gemütssymptomen lieber die allgemeinen durchgehen. Mir ist kalt, und ich habe ein großesVerlangen nach heißen Getränken, vor allem nach Gunpowder-Tee – und immer noch nach Misosuppe. Misosuppe ist außerdem salzig,
und ich habe tatsächlich ein Verlangen nach Salz. Ich träume von Fritten und Chips und Sojasauce. Wenn ich ruhig im Bett liege,
geht es mir besser; Bewegung verschlechtert meinen Zustand. Aber geht es mir vielleicht besser, wenn ich huste oder rede?
Das sind schließlich auch Bewegungen. Ich huste probeweise. Nein, das macht es nicht besser. Ich mache mir ein paar Notizen.
Gibt es sonst noch etwas, was meinen Zustand verbessert oder verschlechtert? Wenn Ben hier ist, fühle ich mich besser. Ich
schreibe
Besseres Gefühl durch Gesellschaft
auf die Liste und überlege dann weiter. Seit dem seltsamen Traum in der Nacht zum Sonntag habe ich komischerweise nur noch
von Vögeln geträumt. Ich notiere:
Vogel-Träume
. Es ist wirklich furchtbar schwierig, die eigenen Gemütssymptome aufzulisten. Komm schon, Alice. Worüber denkst du nach?
Wovon bist du besessen, falls man das überhaupt so sagen kann?
Jetzt fällt mir doch etwas ein. Bei dem Gespräch mit Ben über die Milchproduktion am Nachmittag ist etwas in meinem Kopf passiert.
Ich kann es nicht genau beschreiben, aber irgendwas hat sich verändert, und seitdem denke ich die ganze Zeit: Ist etwas unbedingt
richtig, nur weil es alle tun? Mark Blackman hat uns gezeigt, dass Menschen dazu neigen, das Gleiche zu machen wie alle anderen.
Und ich frage mich: Warum nehme ich eigentlich so vieles hin, was ganz offensichtlich falsch ist, obwohl ich einen Großteil
meines Lebens damit zugebracht habe, ausdrücklich nicht so sein zu wollen wie die anderen? Warum gehe ich davon aus, dass
etwas richtig ist, nur weil es alle klaglos akzeptieren? Natürlich habe ich immer schon gewusst, dass viele furchtbare Dinge
passieren. Ich bin ja nicht blöd. Aber meine eigene Grundhaltung war doch immer, so gut wie möglich durchs Leben zu kommen,
ohne etwas aktiv zu verschlimmern, weil man es ja sowiesonicht besser machen kann. Schließlich existiert vermutlich doch kein vierdimensionales Wesen, das uns beobachtet und aufpasst,
dass wir auch die richtigen Entscheidungen treffen. Es gibt kein Jüngstes Gericht. Man lebt sein Leben, hofft, nicht in einen
Krieg zu geraten – und dann? Irgendwann ist alles vorbei, und man wird wieder zu Staub.
Krieg. Als es noch einen Hitler gab, war völlig klar, wer der Feind ist. Doch gegen wen oder was kämpfen wir heute? Ich spüre,
dass die Leute inzwischen hauptsächlich kleine Privatkriege gegen lärmende Nachbarn, Drogensüchtige oder den Mobilfunkmasten
in ihrem Vorgarten führen – allerdings nicht gegen den Mobilfunkmasten ein Dorf weiter oder den zweitausend Kilometer entfernten,
ungerechten Krieg. Vielleicht ist die Welt ja einfach viel zu groß, um sie noch zu retten, zumal es da draußen so unglaublich
viele Feinde gibt. Es ist doch sowieso zu spät! Retten wir uns selber! Aber bringt uns das irgendwie weiter? Ich habe mich
eigentlich noch nie fähig gefühlt, irgendwas zu retten, weder mich noch die Welt noch sonst etwas. Ein einzelner Mensch zählt
doch nicht. Er kann gar nicht zählen, es sei denn, er wäre ein Staatsoberhaupt. Ich denke an meinen Großvater und all die
vielen persönlichen Kämpfe, die er ausgefochten hat. Er verabscheute Geldgier und Gewinnsucht und lehnte es ab, die Schätze
der Natur zu plündern. Wenn er in einem Geschäft schlecht bedient wurde, beschwerte er sich nicht beim Verkaufspersonal, sondern
ging nach Hause und schrieb einen langen Brief an die Geschäftsleitung der jeweiligen Firma, in dem er sich beklagte, dass
sie ihre Angestellten ausbeute, und mitteilte, aufgrund dieser offensichtlichen Ausbeutung und der daraus resultierenden schlechten
Dienstleistung
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