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künftig nicht mehr dort einkaufen zu wollen. Einmal gab ich zu bedenken, dass die Schuld vielleicht doch bei
den Angestellten liegen könnte. War nicht jeder Mensch selbst für seine Handlungen verantwortlich?Wenn die Firma wirklich so schlecht war, warum kündigten die Angestellten dann nicht? «Es ist unsere Pflicht, das System zu
bekämpfen», sagte er daraufhin zu mir. «Sonst macht es ja keiner.»
Und noch eine seltsame Erinnerung: eine Seminararbeit, die ich an der Uni schreiben musste. Das Thema lautete: «Ist Shakespeares
Sturm
ein rassistischer Text?» Ich weiß noch, dass ich dem Wort «Text» große Bedeutung zumaß und mit Barthes argumentierte, dass
Texte in einer ganz eigenen Dimension existierten, nicht an ihre Entstehungszeit gebunden seien und man als Leser seine eigenen
Erfahrungen mit einbringen müsse, um einem Text Sinn zu geben. Als Text ist der
Sturm
dann rassistisch, wenn man ihn als Geschichte über Caliban liest, den Ureinwohner, dessen Insel von Prospero kolonisiert und
der versklavt wird. Aber was ist mit Inszenierungen, die Caliban nicht so sehr als «monströsen» Ureinwohner, sondern vielmehr
als schillerndes Zauberwesen darstellen? Sind das dann auch rassistische Texte? Oder darf man Zauberwesen etwa versklaven?
Es regt sich ja schließlich auch niemand darüber auf, dass Prospero Ariel in seinen Diensten hat. Während ich noch an der
Arbeit schrieb, kam im Seminar jemand mit dem Einwand daher, der
Sturm
könne allein schon deshalb nicht als rassistisch gelesen werden, weil die Leute zur Zeit Shakespeares noch nicht gebildet
genug waren, um Rassismus zu erkennen und abzulehnen. Man könne, argumentierte der Betreffende, Shakespeare und sein Publikum
nicht für diese Haltung verurteilen, weil ihnen niemand eine andere beigebracht hätte. Wer sollte sie ihnen denn beibringen?
Walt Disney vielleicht? Ich hielt dagegen, dass jeder Mensch zum logischen Denken fähig sei, ebenso wie zur moralischen Argumentation.
Nur weil die Mehrheit etwas gut findet, heißt das doch noch lange nicht, dass man selbst auch so denken muss. Die Sklaverei
wäre niemals abgeschafft worden, wennsich alle einfach zurückgelehnt und sich gedacht hätten: «Ach, die anderen finden das doch auch alle in Ordnung, und es ist
ja auch furchtbar praktisch …» Ich hätte damals gern Francis Stevenson ins Feld geführt, der die Sklaverei schon verurteilt hatte, als diese Ansicht noch
alles andere als populär war. Doch natürlich hatte außer mir kein Mensch je von Francis Stevenson gehört, und es gab noch
nicht einmal Beweise für seine Existenz. Zumindest keine offiziellen. Also schwieg ich.
Und nun sitze ich hier, kämpfe gegen nichts, absolut gar nichts, und bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob das richtig ist.
Ich weiß ja nicht einmal, was mich überhaupt auf diese Gedanken gebracht hat. Die Erkältung vielleicht oder Ben oder Georges,
vielleicht auch das Kids-Labor oder Mark Blackman oder Kieran oder der Todesdoktor … Und ich weiß auch nicht, was ich dagegen unternehmen soll, geschweige denn, wer der Feind ist.
Als Ben wiederkommt, habe ich folgende Liste von Symptomen zusammengestellt:
Kälte > Wärme
< Berührungen
< Bewegung
Verlangen nach Salzigem und Süßem
Verlangen nach Gesellschaft
Angst vor Krankheit
Träume von Vögeln
Ben hat Esther im Schlepptau, die eine Notebook-Tasche trägt. Sie purzeln beide förmlich ins Zimmer.
«Mann, Mann, Mann», sagt Esther.
Ben lacht. «Jetzt haben wir’s ja geschafft.»
«Es soll eben keiner wissen, dass ich dieses Ding habe. Hi, Alice.»
«Hi», sage ich. «Was wird denn das hier?»
«Internetzugang», verkündet Ben. «Für dich. Von uns.»
Esther legt die Notebook-Tasche auf das Bett und setzt sich neben mich.
«Wie geht’s dir?», fragt sie mich.
«Nicht so toll», sage ich. «Danke, dass du mir das Ding bringst …» Ich deute auf das Notebook. «Ich wusste gar nicht, dass du …»
«Erzähl das bloß keinem», sagt sie, beugt sich vor und zieht den Reißverschluss der Tasche auf. Ein kleines, flaches, silbernes
Notebook kommt zum Vorschein. Esther klappt es auf und schaltet es ein. «Ich fahr’s dir hoch», sagt sie, «und dann gehen wir
und holen dir einen Tee oder so was.»
«Danke», sage ich.
Esther drückt ein paar Tasten. Ich habe keine Ahnung, was sie macht.
«Da», sagt sie.
«Wie?», frage ich. «Es ist doch gar nicht angeschlossen.»
«Das kommt direkt aus den
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