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Experimenten nachgewiesen hat. Menschliche Grausamkeit und der Umstand, dass sie häufig durch Autoritäten
gebilligt werden muss, gehören zu einem hochinteressanten Forschungsfeld. Die allermeisten Menschen sind freundlich und vernünftig,
wenn man sie sich selbst überlässt. Aber sobald man ihnen einen Knopf für Elektroschocks in die Hand gibt und ihnen sagt,
dass sie ihn nach Herzenslust betätigen dürfen, werden die meisten zu Monstern.»
Mein Großvater hat einige Beispiele parat, die auch in diese Kategorie fallen: Leute, die es gerechtfertigt finden, dass die
Polizei die streikenden Bergarbeiter verprügelt, weil die Polizei nun einmal, anders als die Bergarbeiter, die Autorität verkörpert.
Leute, die Tierversuche in Ordnung finden, weil die Regierung sie billigt und berühmte Wissenschaftler in weißen Laborkitteln
sie durchführen. Und Leute, die Atomraketen für notwendig halten, weil ein paar Politikwissenschaftler und Logiker ihnen erklären,
dass ihr Leben durch sie sicherer würde. Dann kommen die drei auf die Konzentrationslager der Nazis und all die Wärter, die
angeblich nur Befehle ausgeführt haben.
Ich dagegen muss an die Schule denken. An einen Vorfall letzte Woche, als unsere Clique Liz dabei entdeckt hat, wie sie allein
ihr Pausenbrot verzehrte. «Hast wohl keine Freunde, was?», hat Lucy zu ihr gesagt. Und Sarah meinte: «Sie ist so fett, da
passt sie gar nicht in den Speisesaal.» Wir haben alle gelacht. Ich auch. Ich fand es falsch, Liz auszulachen, und trotzdem
habe ich gelacht, weil Lucy und Sarah es in Ordnung fanden. Und außerdem habe ich gelacht, weil ich nicht so sein wollte wie
Liz. Indem ich sie auslachte, konnte ich mich mehr von ihr distanzieren. Ich bin die, die lacht; nicht die, über die gelacht
wird. Darin besteht meine Identität – zumindest für den Augenblick.
Es gibt mir eine Rüstung, mit den beliebten Mädchen herumzuziehen,und ich kann es mir nicht leisten, diese Rüstung zu verlieren. Dafür biete ich viel zu viel Angriffsfläche – viel zu viel,
das einer genaueren Prüfung nicht standhalten würde. Ich kann mir auf keinen Fall erlauben, in Liz’ Lage zu kommen, weil es
den anderen ein Leichtes wäre, sich auch über mich lustig zu machen. Man muss einfach nur wissen, wie. Der beste Weg, sich
keine Feinde zu machen, ist, sich mit den Feinden zu verbünden. Und zum ersten Mal begreife ich, wie Menschen im Krieg zu
Kollaborateuren werden. Wenn ich bisher etwas über Menschen gelesen habe, die ihre Freunde an die Nazis verrieten, konnte
ich nie begreifen, wie sie das tun konnten. Ich dachte immer, ich würde den nötigen Mut haben. Wenn ich in so einer Lage wäre,
würde ich niemanden verraten, selbst wenn sie mich zu Tode folterten. Dabei werde ich schon zur Verräterin, weil ich in der
Schule nicht gehänselt werden will. Was bin ich bloß für ein Mensch?
Ich bin völlig in meinen Gedanken versunken und merke gar nicht, dass mich plötzlich alle drei Erwachsenen lächelnd ansehen.
«Also?», sagt meine Großmutter.
«Tut mir leid», sage ich. «Ich war gerade irgendwie woanders.»
«Hier ist ein rosa Elefant im Zimmer», sagt Jasmine zu mir.
Habe ich richtig gehört? Was soll das? Vielleicht wird ja irgendein Witz daraus?
«Aha», sage ich, neugierig, was als Nächstes kommt.
Alle lachen.
«Ich habe dir doch gesagt, das wird bei Alice nicht funktionieren», sagt mein Großvater.
«Ist hier ein rosa Elefant im Zimmer?», fragt mich Jasmine.
«Nein», antworte ich.
«Bist du sicher?», fragt sie.
«Ja», sage ich. «Schauen Sie sich doch mal um. Hier ist keinrosa Elefant. Wie hätte er auch reinkommen sollen? Außerdem gibt es keine rosa Elefanten, also weiß ich ganz genau, dass auch
keiner hier sein kann.»
«Aber ich sage dir, es ist ein rosa Elefant im Zimmer.»
«Na gut.» Ich zucke die Achseln. Ich habe keine Ahnung, worauf das hinauslaufen soll.
«Kannst du mir das Gegenteil beweisen?», fragt Jasmine.
Oh, Mist. Frustriert denke ich ein bisschen darüber nach. Das ist keine Matheaufgabe. Solche Sachen kann man nicht einfach
so beweisen, das ist mir klar. Man kann sich schließlich nur auf die eigenen Sinne, den angeborenen gesunden Menschenverstand
und eine durchaus fehlerhafte Nicht-Logik verlassen, die auf Erfahrung basiert. Mit einem Blatt Papier und einem Bleistift
könnte ich jederzeit den Satz des Pythagoras beweisen, aber ich kann nicht beweisen, dass kein rosa Elefant im Zimmer
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