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PopCo

PopCo

Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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angenommen», sage ich.
    «Klar. Blieb mir ja auch nichts anderes übrig. Erst wollte ich das Geld, das ich verdiene, noch in Kunstprojekte stecken,
     aber du weißt ja selber, wie das ist. Die Freunde verschwinden, und ich habe seitdem eigentlich nur noch gearbeitet. Inzwischen
     lebe ich praktisch online.»
    Ich muss an Kieran und seine virtuellen Welten denken. «Online?», frage ich.
    «Ja. In diesen Newsgroups und Nachrichtenforen und bei Ultima und EverQuest kann man sich richtig verlieren, weißt du. Inzwischen
     habe ich sogar ein paar ganz gute Online-Freunde. Und auch ein paar Feinde   …»
    «Esther?», frage ich abrupt. «Was genau arbeitest du?»
    «Was ich arbeite? Ach.» Sie räuspert sich. «Wenn ich dir das sage, magst du mich bestimmt nicht mehr. Und das würde sogar
     noch für dich sprechen   …»
    «Ich verstehe nur Bahnhof.»
    Sie holt tief Luft. «Ich mache Websites.»
    «Wie? Du meinst, du arbeitest für die PopCo-Website?»
    «Nein. Nein. Ich mache eigene Websites. Ich erfinde Personen und   … Auf einer Website bin ich beispielsweise April aus London, die eine eigene Homepage hat. Die Idee dahinter ist, dassich als April Tagebuch führe, eine Art Blog, mit Listen, was ich mag und was ich nicht mag. Und hin und wieder – natürlich
     nicht so oft, dass es auffallen würde, aber doch häufig genug, dass es wirkt – bin ich plötzlich ganz verrückt nach einem
     Pop-Co-Produkt, meistens irgendein K-Ding oder ein Finbar-Tier. Am einen Tag bin ich also April und schreibe in meinem Blog über den neuesten Finbar, der gerade auf
     den Markt gekommen ist und den ich unbedingt sofort haben muss. Und am nächsten Tag bin ich beispielsweise Tabitha, die mit
     ihrer Magersucht kämpft und auf allen Fotos K-Klamotten trägt, in denen sie ganz sexy mager aussieht. Oder ich bin zwei Freundinnen, die einen inoffiziellen Finbar-Fanclub gegründet
     haben. Die mache ich meist am Wochenende. Außerdem soll ich PopCo-Produkte bei Ultima und EverQuest und in verschiedenen Chatrooms
     platzieren. Man nennt so was Guerillamarketing. Das ist meine Arbeit. Und deshalb musste ich auch neulich Samstag noch zu
     Mac. Er hat mir das Notebook organisiert, damit ich die Seiten von hier aus aktuell halten kann.»
    «Und Hiro macht das auch», sage ich langsam.
    «Ja.» Esther sieht zu Boden. «Hiro auch.»
    «Dasselbe wie du? Nur als Junge?»
    «Er hat keine konkreten Rollen. Das ist bei Jungs auch nicht so wichtig. Aber er macht die ganzen Videospiel-Fansites. Na
     ja, nicht alle natürlich. Ich glaube, es gibt bei PopCo ungefähr zwanzig von uns, die sich um so was kümmern. Wir haben keinen
     Kontakt untereinander, so ist das zumindest gedacht. Aber Hiro kenne ich schon länger.»
    «Und wie seid ihr euch begegnet?», frage ich.
    «Wie meinst du? Ach so. Ganz zufällig. Online.» Ich merke ihr an, dass sie schwindelt, kann mir das aber nicht erklären.
    «Zumindest verstehe ich jetzt, warum du das geheim halten musstest», sage ich.
    «Ja. Es soll natürlich keiner von diesen Stellen wissen, nichtmal die Kollegen. Vermutlich fänden die meisten das unehrlich.»
    «Ist es ja auch», sage ich und zucke mit den Schultern, aber dann weiß ich auch nicht mehr, was ich noch sagen soll.
    «Aber es ist doch alles unehrlich, Alice», sagt Esther. «Alles.» Da hat sie recht. Die Art, wie unsere Produkte entwickelt,
     in
    Fokusgruppen getestet, hergestellt und verkauft werden – das ist alles unehrlich. Alles.
    ***
    Während der nächsten drei Jahre gelingt es meiner Großmutter auch weiterhin nicht, die Riemann’sche Vermutung zu beweisen,
     doch sie schreibt ein paar vielbeachtete Aufsätze zu verwandten Themen. Meinem Großvater gelingt es weiterhin nicht, das Voynich-Manuskript
     zu entschlüsseln, doch er veröffentlicht zwei neue
Kopfnuss
-Sammelbände. Und mir gelingt es weiterhin nicht, den Code aus meinem Medaillon zu knacken.
    Für die GCS E-Prüfungen müssen wir in Englisch eine Projektarbeit zu einem Buch unserer Wahl schreiben. Ich entscheide mich für
Woman on the Edge of Time
, dieses bewegende und verstörende Buch, das ich mit noch nicht zwölf gelesen und damals kaum verstanden habe. Ich konzentriere
     mich auf die Themen Unterdrückung und Widerstand und schreibe einen Aufsatz, der weit über die vorgeschriebenen Anforderungen
     hinausgeht. Dafür bekomme ich ein A, und auch in meinen anderen GCS E-Fächern habe ich nur die besten Noten. Nach dem Vorfall beim Schachturnier hatte Motzmann sich auf

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