PopCo
Schreibtische.
Wir sind der Ansicht, dass die Musik aus den Charts für den «Pöbel» ist (das Wort stammt von Rachel), und beschließen, uns
für sogenannte Independent-Musik zu interessieren. Zu diesem Zweck kaufen wir großformatige, labbrige Musikzeitschriften und
legen uns all die Platten zu, die dort als «in» bezeichnet werden. Am Abend sitzen wir auf unseren Zimmern, hören Musik und
versehen unsere Jeans sorgfältig mit Rissen und Fransen. Außerdem nähen wir Flicken darauf: die amerikanische Flagge auf das
eine, ein V W-Logo auf das andere Bein, manchmal auch Paisley-Muster oder das Yin-Yang-Symbol. Wir reden davon, ein echtes V W-Logo zu klauen, um es irgendwie anders zu tragen – das ist ein neuer Trend, von dem wir gelesen haben. Außerdem haben wir gelesen,
dass es «trendig» ist, zu den zerrissenen Jeans Markenturnschuhe zu tragen, was wir natürlich sofort machen. Wir träumen davon,
nach Amerika zu fliegen. Wir sezieren Songtexte und suchen nach verborgenen Botschaften, und kurzzeitig sind wir beide ganz
besessen von Marilyn Monroe. Wir tragen dicken schwarzen Kajal und blassrosa Lippenstift. Wir werden unser Oberstufenkolleg
im Sturm erobern.
Eines Tages, etwa eine Woche vor Ferienende, sind wir wie immer in der Stadt und tun so, als wären wir älter, als wir sind,
auf Drogen oder mitten in irgendeiner superspannenden Lebenskrise – was wir uns eben so unter Erwachsensein vorstellen. Wir
sind unterwegs, um neuen Lippenstift zu kaufen, der genau den richtigen Blassrosaton haben muss. Denbrauchen wir unbedingt. Im Grunde leben wir nur für solche Sachen. Manchmal sehen wir in der Stadt Leute, die ich noch aus
Groveswood kenne. Emma beispielsweise macht jetzt eine Lehre als Verkäuferin bei Miss Selfridge, Lucy arbeitet in einer Bank.
Wir finden sie alle richtig blöd und lachen über ihre Frisuren, ihre Klamotten und ihre Arbeitsstellen. In diesen gesellschaftlich
sanktionierten Alltagstrott zu verfallen und an so jämmerlichen Orten wie in einer Bank oder einem kommerziellen Klamottenladen
zu arbeiten – das kann uns nicht passieren. Den ganzen Tag müssen sie Befehle befolgen, mit ihren adretten Pferdeschwänzen,
ihren rotgeschminkten Lippen und ihrem Rouge, und wir erzählen uns gegenseitig, dass sie total albern aussehen. Man muss seine
Seele doch mindestens an Thatcher, Hitler oder Reagan verkauft haben, um freiwillig wie eine billige Puppe mit rotem (ausgerechnet
rotem!) Lippenstift, schwarzem Röckchen und Strumpfhose herumzulaufen. Und Absätze tragen sie auch noch! Bei allem, was Rachel
und ich tun, geht es darum, bloß nicht so zu werden. Unser Lippenstift, unsere Jeans, unsere Frisur – das alles wird mit größter
Sorgfalt kombiniert, um der Welt zu zeigen, dass unsere Vorlieben nicht dem Massengeschmack entsprechen. Zumindest nicht dem
Geschmack des Pöbels in unserer Stadt. Nach London oder Paris oder an andere solcher Orte würden wir wahrscheinlich schon
passen.
So suchen wir also nach unserem rosa Lippenstift. Vor der Boots-Filiale stehen wie immer die Tierschützer mit ihrem Stand.
Wir gehen rauchend darauf zu.
«Da will ich mitmachen», sagt Rachel zu mir. Kein Wunder. Sie liebt Tiere, das war schon immer so. Seit sie zehn ist, will
sie Tierärztin werden.
«Ich auch», sage ich. «Aber ich habe Angst davor.»
Wir kichern. «Ich auch», sagt Rachel. «Obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, warum.»
«Die würden es bestimmt nicht gut finden, dass wir rauchen», sage ich.
«Ja. Und dass wir uns schminken», sagt Rachel.
«Glaubst du, das stimmt alles, was die da behaupten? Was den Tieren angetan wird?»
«Keine Ahnung», sagt Rachel. «Wahrscheinlich ist es irgendwie übertrieben.»
«Ja. Das wäre sonst auch zu schrecklich.»
«Das würden die Leute doch gar nicht zulassen.»
«Eben. Genau.»
«Aber ich bin schon derselben Meinung wie die.»
«Ja, ich auch.»
Und nachdem wir unserer Persönlichkeit damit diesen neuen Baustein hinzugefügt haben, stolzieren wir in unseren Jeans in die
Drogerie und kaufen unseren Lippenstift. Wir lachen über die furchtbaren Fotos von den Models an den Kosmetikregalen und kichern
über Abführmittel und Kondome. An die Tierversuchsgegner draußen im Regen denken wir schon nicht mehr. Wir ziehen keine Parallelen
zwischen ihnen und unserem Leben. Und wir kommen auch nicht auf die Idee, nicht mehr bei Boots einzukaufen. Sonst hat doch
keiner unseren Lieblingslippenstift! Vor
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