PopCo
kurz nach einem Feuerwerk: Überall liegen kalte, schmierige Hot-Dog-Tüten und ausgebrannte Raketenhülsen
herum. Seit Monaten habe ich kaum ein Wort mit meinen Großeltern geredet; jetzt merke ich, dass ich einfach zu Hause bleiben
muss. Ich muss meinem Großvater eine gute Enkelin sein. Ich will wieder mit ihm arbeiten, wie früher, als Kind, bevor all
die schönen, sinnlosen Sternschnuppen um mich herum explodiert sind. Doch sogar das wird mir verdorben, weil ich mich natürlich
um Rachel kümmern und ihr helfen muss, heimlich eine Abtreibung zu organisieren und die Ärzte davon zu überzeugen, dass sie
ihren Eltern wirklich nichts davon sagen kann.
Als das alles vorbei ist, ist mein Zimmer wieder ordentlich, ich trage wieder mein Medaillon, und meine gefärbten Haare sind
schon fast rausgewachsen. Ich nehme das Leben nicht mehr so leicht wie früher. Rachel fängt noch einmal mit den A-Level -Kursen an und entscheidet sich diesmal doch für den naturwissenschaftlichen Zweig, und ich reiße mich für mein zweites Jahr
am Riemen. Als ich ein Jahr später zur Universität aufbreche, habe ich ein Rezept für einen Eintopf aus Wurzelgemüse, meine
mit Klebeband geklebte Brille und zahllose Bücher im Gepäck, die mit dem Voynich-Manuskript zusammenhängen. Jede Woche schreibe
ich meinem Großvater per Handeinen langen Brief auf schönem Briefpapier. Ich sehe mir die anderen Studienanfänger an, die ihre ersten Joints rauchen, sich
den Kopf über ihre ersten sexuellen Erfahrungen zerbrechen und für jeden Club, den sie gründen, ein neues «Logo» entwerfen
müssen, und weiß, dass ich das alles längst hinter mir habe.
***
Am Donnerstagmorgen treffen meine Medikamente ein, in einem kleinen braunen, gefütterten Umschlag. Das heitert mich etwas
auf. Ich bekomme schrecklich gern homöopathische Arzneien mit der Post: braune Fläschchen mit winzigen weißen Globuli darin
und Etiketten, die den lateinischen Namen und die Potenz des Mittels verzeichnen. Ich nehme ein
Kalium carbonicum
aus dem 200er-Fläschchen und lege mich wieder ins Bett. In der Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen, und das Medikament
macht mich noch zusätzlich müde. Ich verschlafe das Frühstück.
Um elf Uhr setze ich mich im Bett auf, schalte den Fernseher ein und dann gleich wieder aus. Ich gehe ins Bad und wasche mir
das Gesicht. Zurück im Zimmer betrachte ich die Storyboards, die ich gestern angefertigt habe. Ein Haufen gequirlter Scheiße.
Zum ersten Mal seit langem denke ich wieder an meine eigene Teenagerzeit zurück. Ich denke daran, wie wir uns damals stilisiert
haben, als wären wir künstliche Intelligenzen oder Online-Avatare, als wäre Persönlichkeit etwas, das man sich selbst zusammenbauen
kann, wenn man nur die richtigen Bestandteile kauft. Aber als ich jung war, durfte man immerhin noch selbständig denken. Und
man musste ganz schön kreativ sein, um die Einzelteile zu finden und zusammenzubauen. Die Teenager selbst haben sich kaum
verändert, nur gibt es heute sehr viel mehr, was sie kaufen können. Undaußerdem gibt es Menschen, die nur darauf warten, sie in Fokusgruppen zu stecken und zu sagen: «So, Mädels, jetzt erzählt
uns mal ganz genau, was ein Lippenstift für euch so alles können muss.» Plötzlich fällt mir die Sache mit dem Mond wieder
ein. Angenommen, ich wäre Wissenschaftlerin und hätte herausgefunden, wie man den Mond als Werbefläche benutzt und Markenlogos
darauf projiziert, damit die ganze Welt sie sehen kann (eine Medienreichweite von hundert Prozent, wenn man Blinde nicht mitrechnet):
Würde ich diese Erfindung dann verkaufen? Würde ich für eine Million oder mehr den Mond verkaufen? Nein. Auf gar keinen Fall.
Ich denke an die vielen Marketingbücher, die ich gelesen habe, an all die kleinen Tricks, die man in unserer Branche lernt,
und mir wird klar, dass Esther völlig recht hat. Das ist alles unehrlich. Wir sind die Bauernfänger des 21. Jahrhunderts. Marketing dient schließlich dazu, den Menschen Dinge zu verkaufen, die sie eigentlich gar nicht brauchen. Würde
man beispielsweise ein T-Shirt mit einem bestimmten Logo dringend brauchen, müsste kein Mensch die Idee dafür vermarkten. Marketing und Werbung … Was einmal damit begann, zu jemand anders zu sagen: «Schau mal, das stellen wir her! Willst du es haben?», hat sich längst
in Aussagen wie: «Wenn du das kaufst, kriegst du mehr Sex!» verwandelt, was wiederum die Botschaft
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