PopCo
ich überhaupt einen? Ja, doch. Dafür, dass sie mich so unversehens, so spontan und gefühlsduselig
überfallen hat, kommt mir meine Zukunft erstaunlich gut geplant vor. Morgen werde ich mit den anderen segeln gehen,und am Sonntag werde ich nach Hause fahren. Ich werde vorschützen, dass ich immer noch krank bin und dass Georges mir geraten
hat, das Projekt nicht fortzusetzen. Und dann werde ich meine Kündigung schreiben. Vielleicht kann ich ja meine Kreuzworträtselseite
wiederbekommen – mit dem Redakteur bin ich immer noch ganz gut befreundet – oder eine Art Nachfolgekolumne zu der meines Großvaters
begründen,
Die Nachfahrin der Kopfnuss
oder so, obwohl das wie ein schlechter Filmtitel klingt. Ich werde meine Wohnung putzen, meine Katze bürsten und nicht ständig
zu müde sein, um Rachel zum Abendessen einzuladen. Ich werde im Zoo aushelfen. Ich werde meine PopCo-Aktien verkaufen und
eine Reise machen; es gibt da einen Ort, an den ich schon lange einmal wollte. Ich werde die verstaubte alte Truhe im Schlafzimmer
öffnen und das Voynich-Manuskript herausholen, damit ich meinem Großvater etwas zu berichten habe, wenn wir uns in meinem
ganz persönlichen Jenseits wiedersehen. Werde ich auch meiner Mutter etwas zu berichten haben? Wie’s aussieht, nicht allzu
viel. Ich frage mich, ob mein Vater sich auch dort irgendwo herumtreibt oder ob er noch auf dieser Welt ist. Wahrscheinlich
spielt das aber keine Rolle, und es interessiert mich eigentlich auch nicht. Man hat zwar eine gewisse Pflicht, sich lange
um seinen verschwundenen Vater zu grämen, doch damit habe ich nie besonders viel Zeit verschwendet. Er hat mich verlassen,
als ich neun Jahre alt war, wegen des vagen Traums von einem ominösen Schatz. Mit zehn war ich über ihn hinweg. Falls ich
ihn jemals wiedersehe, werde ich ihn vielleicht fragen, was ihn dazu bewogen hat, aber ich bezweifle, dass mir seine Antwort
viel bringen wird.
Selbst meine Haare fühlen sich heute anders an, so weich und zart wie die Haare eines Kindes.
Mach schon, Alice. Ben wird gleich hier sein
. Ich setze meine Kontaktlinsen ein, und selbst die Erfahrung, plötzlich alles scharf zu sehen, erscheint mirvöllig neu, als würde ich das nicht Tag für Tag erleben.
Wie neue Augen
, denke ich. Vielleicht habe ich heute ja wirklich neue Augen. Ich reibe mir das Gesicht mit etwas Orangenblütenwasser ab,
trage getönte Tagescreme auf, Lippenpflege und ein wenig Wimperntusche mit Rosenduft. Die Handcreme, die ich mir mit den Medikamenten
bestellt habe, ist weich und kühl, und ich nehme etwas davon, einfach nur, weil mir das Gefühl und der Duft gefallen. Ich
freue mich darauf, an die frische Luft zu kommen und wieder etwas anderes zu sehen als PopCo Towers.
Ein paar Minuten später klopft es. Als ich öffne, steht Ben draußen. Er hat ein kleines, weißes Päckchen in der Hand, das
mit Tesafilm verklebt ist. Es hat etwa die Größe eines Buches.
«Hier», sagt er. «Das lag vor deiner Tür. Ist wohl für dich.»
«Danke», sage ich und nehme es ihm rasch ab. Ist das nun endlich der geheimnisvolle Brieffreund? Ich bin mir ziemlich sicher.
Ich stecke das Päckchen in meine Leinentasche, wo es gerade noch zwischen die Nikotinkaugummis, meinen Tabak (nach dem ich
mich inzwischen regelrecht verzehre), mein Portemonnaie, die Medikamente, ein kleines Notizbuch, einen Bleistift, einen Füller
und meine Notfallausrüstung passt. Der Anblick der Notfallausrüstung versetzt mir einen kleinen Stich. Die werde ich jetzt
wohl nicht mehr bei einer Teambesprechung vorstellen. Ich werde keine Gelegenheit mehr haben, Tausenden von Kindern beizubringen,
wie man allein in der Wildnis überlebt. Andererseits kann ich aber auch ein richtiges Überlebenstrainingsbuch schreiben, wenn
ich das unbedingt will. Wenn ich tatsächlich ein Buch schreibe, kann sich das um alles Mögliche drehen. Vielleicht mache ich
aus meinen Recherchen für das Survivaltrainings-Set ja eine kostenlose Website für Kinder.
«Fühlst du dich auch wirklich gut genug, um mitzukommen?», fragt Ben.
«Was? O ja. Natürlich. Ich glaube nur, ich werde noch nicht allzu viel herumlaufen.»
Ben lächelt. «Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht.»
Ich lächele zurück. «Ich auch. Aber du weißt ja wohl, was das heißt?»
«Was denn?»
«Du solltest damit rechnen, heute noch flachgelegt zu werden. Mehr sage ich dazu nicht.»
«Flachgelegt? Das hört sich gut an.»
«Wird es
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