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PopCo

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Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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einem Foto festhalten. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich so etwas gesehen. Es war, als wäre der Himmel
     entzweigerissen worden, sodass seine Eingeweide hinausquollen. Die schwarzen Umrisse der Bäume und Häuser hoben sich wie ausgebrannte
     Ruinen vor diesem vielfarbigen Himmelschaos ab. Dann wurde mir klar, dass ich selbst in einer ausgebrannten Ruine saß, einfach
     so und ganz allein, ohne einen einzigen lebenden Verwandten, und ich fing an zu weinen.
    Und plötzlich schien mir alles ganz logisch. Die Welt war trotzdem schön, selbst wenn Menschen, die man liebte, sterben mussten.
     Und wenn selbst dieser Himmel eine Art Sterben darstellte, war das mit dem Tod vielleicht gar nicht so schlimm. Ob der Himmel,
     in den wir nach dem Tod kommen, sich wohl dort verbarg, hinter all diesen Farben? Dieser Himmel vor mir ließ mich zum ersten
     Mal auch an den anderen Himmel glauben.Ich glaubte plötzlich an einen Himmel, an Geister und ein Leben nach dem Tod, obwohl ich das nie erwartet oder beabsichtigt
     hatte. Es war keine verstandesgesteuerte Überzeugung, die sich mit empirischen Beweisen und vernünftigen Argumenten hätte
     belegen lassen, sondern ein Glauben an Wunder, an die Liebe und eine weite, endlose Zukunft. Es war ein Himmel wie aus dem
     Märchen, und ich glaubte in diesem Moment daran. Ich glaubte an alles. Wenn das die Natur war, dann hatte es vielleicht doch
     seine Richtigkeit damit. Vielleicht war der Tod ja ebenso Teil der Natur wie dieser Himmel hier. Und plötzlich brauchte ich
     meinen schmutzig braunen Schleier nicht mehr. Ich verspürte nur noch Hoffnung, und die Trauer um den Tod meines Großvaters
     floss mit den Resten des Sonnenuntergangs davon, bis ich schließlich mit nassen Wangen in völliger Dunkelheit saß, ohne mich
     rühren zu können.

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
    E s ist 19   Uhr 58, mein Hirn läuft auf vollen Touren, und mein Herz pumpt das Blut dreimal so schnell wie sonst durch meinen Körper.
     Ben ist fort. Ich habe aufgeräumt. Ich habe eine Zigarette geraucht, meinen Rock glatt gestrichen und mich im Spiegel betrachtet.
     Was habe ich dort gesehen? Eine neunundzwanzigjährige Frau mit Schulmädchenzöpfen, glänzenden Lippen und dezentem Augen-Make-up.
     Und was noch? Ein einsames Kind? Eine verwirrte Erwachsene? Wer bin ich heute? Was ist das für ein Krieg, für den ich angeworben
     werden soll? Will ich überhaupt daran teilnehmen?
Nimm Kiste B
. Selbst der Geist von Charles Babbage scheint mehr über mein Leben zu wissen als ich.
    Kriegsgedanken, schon wieder. Ich denke an die Visitenkarten, die ich am Mittag in dem Naturkostladen gesehen habe. Ich denke
     an die vielen individuellen Kleinkriege, die die Menschen ständig ausfechten. Alle kämpfen gegen Zellulitis, gegen schlechte
     Gefühle, Abhängigkeiten oder Stress. Und ich denke daran, dass wir inzwischen alle möglichen Söldner anheuern können, die
     uns im Kampf gegen uns selbst unterstützen – Therapeuten, Nagelpfleger, Friseure, persönliche Fitnesstrainer, Lebensberater.
     Aber wozu das alles? Was erreicht man mit diesen vielen kleinen Kriegen? Obwohl das auch Teil meines eigenen Lebens ist, obwohl
     auch ich so schlank und hübsch sein will, dass mich keiner auf der Straße auslacht, und nicht so verrückt, dass ich plötzlich
     anfange, in der U-Bahn herumzubrüllen, kommt es mir plötzlich ziemlich albern vor. Mit all dem versuchen wir doch nur, uns an einem größeren Krieg
     zu beteiligen. Wir wollen uns ständig mit dem Feind verbünden.Es ist die Stimme des Feindes, die uns ins Ohr flüstert, dass die Küche zu unordentlich sei und das Bad nicht sauber genug,
     dass das Haar nicht gesund genug aussehe, die Beine nicht schlank genug seien, das Adressbuch nicht voll und die Kleidung
     nicht cool genug. Meine Großeltern haben die Kollaboration verweigert. Wie konnte ich bloß so unmerklich auf die falsche Seite
     geraten? Vielleicht, weil mir keiner gesagt hat, dass überhaupt Krieg geführt wird.
    Hitler hat versucht, uns allen seine geordnete, blonde, kraftstrotzende Vorzeigewelt aufzudrängen, und wir haben uns dagegen
     gewehrt. Wieso sagen wir dann jetzt einfach ja, wenn McDonald’s, Disney, Gap und L’Oréal dasselbe zu tun versuchen? Hitler
     hätte bloß mehr Marketing gebraucht. Seine Propagandamaschinerie war für die damalige Zeit eine Art Geniestreich, das liegt
     auf der Hand. Brillante Idee, den Leuten das Gefühl zu geben, zu etwas Größerem zu gehören, durch ihre Identität zu

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