PopCo
dagegen. Aber wenn du für ein echtes Tier dein Leben riskierst,
erklären dich gleich alle für verrückt.»
Chloë drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Ich habeauch fertig geraucht. Weil meine Hände plötzlich nichts mehr zu tun haben, spiele ich mit einer Troddel an der Tagesdecke,
ohne richtig hinzusehen.
«Ben hat mich ziemlich ins Nachdenken gebracht, über Tiere und was wir ihnen eigentlich antun», sage ich. «Schon seltsam,
wenn man sich mal klarmacht, was wir alles aus welchen Gründen konsumieren.»
«Viele bei NoCo fühlen sich vom Tierschutzaspekt angezogen», sagt Chloë. «Das scheint die Leute irgendwie instinktiv anzusprechen.
Mir persönlich geht es eigentlich eher um die Menschenrechte, auch wenn beides natürlich eng zusammenhängt. Ein Tier hat genauso
viel Recht auf ein friedliches Leben wie ein Mensch. Ich finde nur immer, dass man als Mensch gleich doppelt betrogen wird,
weil man nicht nur ausgebeutet, sondern auch noch belogen wird und Verletzungen und Enttäuschungen erleiden muss. Manche halten
dagegen, dass Menschen aber auch zur Waffe greifen und sich gegen ihre Unterdrücker wehren können, wozu Tiere nicht in der
Lage sind. Trotzdem, wenn ich auf den Punkt bringen müsste, worum es bei NoCo geht, würde ich sagen: Es geht darum, all die
Lügen zu beseitigen und stattdessen die Wahrheit zu sagen.»
Chloë lehnt sich im Sessel zurück, zieht die Beine hoch und setzt sich in den Schneidersitz. Mir fällt auf, dass sie sich
beim Sprechen kaum bewegt und auch nicht gestikuliert. Alles, was sie tut und sagt, wirkt langsam und sanft. Jetzt fährt sie
fort: «Wir erinnern uns alle noch gut daran, wie wir zum ersten Mal erfahren haben, dass es keinen Weihnachtsmann gibt oder
dass wir entstanden sind, weil Mama und Papa miteinander geschlafen haben, oder dass etwas, was wir für vier neunundneunzig
im Laden kaufen, in der Herstellung vermutlich kaum mehr als einen Penny gekostet hat.» Sie lächelt mich an. «Wenn du das
alles als Kind herausfindest – dann drehst du eine Zeitlang ein bisschen durch. Aber danach wirst du erwachsen undstellst fest, dass es noch sehr viel mehr Lügen gibt, als du bisher vermutet hast. Du stellst fest, dass der nette Junge,
der dich zum Kaffee einlädt, eigentlich mit dir ins Bett will, dass der Werbespot lügt, der dir weismachen will, du würdest
schön und schlank, wenn du nur genau dieses Shampoo verwendest, dass die ‹Wahnsinns-Tiefstpreise›, die alle Geschäfte dir
anpreisen, tatsächlich reiner Wahnsinn sind und der Typ, der dir in seiner Mail einen Anteil an ein paar Millionen Pfund verspricht,
nur ein Spammer ist. Du merkst, dass nichts von dem, was dir als ‹gratis› angepriesen wird, tatsächlich gratis ist. Und jedes
Mal denkst du: ‹Mann, jetzt haben sie mich schon wieder reingelegt.› Aber irgendwann gewöhnst du dich daran.»
Ich zerpflücke die Troddel in ihre Einzelteile und denke über Lügen nach.
«Ich mag vor allem die Stellenanzeigen, in denen steht, es wäre ‹keine Vertriebstätigkeit›», sage ich. «Und wenn man dann
zum Vorstellungsgespräch geht, stellt sich heraus, dass man die Doppelglasfenster tatsächlich nicht verkaufen, sondern nur
vorab einen ‹Termin› für den Vertreter vereinbaren soll.»
«Genau!», sagt Chloë. «Wenn man sich mal aufmerksam umschaut, erkennt man, dass unsere ganze Welt mit Lügen gepflastert ist,
jede Plakatwand, jedes Schaufenster, jede Zeitung und jede Zeitschrift. Alle wissen, dass Werbung eine Form von Lüge ist,
aber damit kann man ja leben. Vielleicht ist das genau genommen auch ein beidseitiger Illusionsvertrag. Die Werbung erklärt
dir, dass du elegant und erotisch wirkst, wenn du ein bestimmtes Auto kaufst, oder fröhlich und fidel bei einem anderen, und
du kannst dir dann das Auto aussuchen, das am besten zu deinem Selbstbild passt, weil du ja weißt, dass alle deine Freunde
die Werbung auch gesehen haben und die Botschaft deshalb verstehen werden. Sie lesen das Auto als Teil des Strichcodes deiner
Identität. Diese Seite des Konsumdenkens macht vielen Leuten großenSpaß, und das ist ja irgendwie noch in Ordnung, auch wenn es jetzt nicht unbedingt Teil meiner ganz persönlichen Utopie wäre.
Das Problem ist nur, dass diese ganze etablierte Lügenkultur zwar Spaß macht, wenn man so was mag, es gleichzeitig aber richtig
bösen Menschen ermöglicht, die fürchterlichsten Dinge zu tun und damit durchzukommen, weil sie
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