PopCo
erzählten. Kann man solche Katastrophen zu Witzen machen, weil sie so weit weg sind? War das der Grund dafür? Ich denke über
das nach, was Chloë gerade gesagt hat. Ja, in gewisser Weise ist es für den Einzelnen nur logisch, gar nichts zu tun. So habe
ich schließlich auch fast mein ganzes bisheriges Leben zugebracht. Das war auch meine Entschuldigung.
«Und du versuchst, diese Leute vom Gegenteil zu überzeugen?», frage ich. «Auf der Straße?»
«Nein», sagt Chloë. «Die Straße habe ich schon vor Jahren aufgegeben.»
«Aber ich dachte … Macht NoCo das nicht auch in irgendeiner Form?»
«NoCo? Lieber Himmel, nein», erwidert sie. «NoCo hat ganz andere Ziele. Wir wollen die Scheißkonzerne in den Ruin treiben.
Darum geht es uns. Die Zeiten, als man noch mittelständische Hausfrauen auf der Straße anquatschte, sind vorbei. Wie gesagt:
Es ist Krieg.»
Ich kann mir nicht helfen: Ich finde das aufregend. «Aberwie macht ihr das?» Ich spüre, dass meine Augen funkeln, als ich Chloë anschaue.
Sie streicht sich erneut das Haar hinters Ohr. «Bist du so weit erst mal mit unseren Zielen einverstanden?», fragt sie mich
mit ernster Miene.
«Ja, ich denke schon», sage ich. «Vieles von dem, was du gesagt hast – das dachte ich ohnehin schon. Und ich begreife auch,
wie absurd das ist, vor allem, wenn man hier arbeitet. Wobei ich allerdings zugeben muss, dass erst diese Veranstaltung hier
nötig war, die ganzen Workshops und das gruselige Teeniezeug, um mir einiges klarzumachen. Irgendwie bin ich wohl auch so,
wie du gesagt hast. Ich habe das alles eigentlich schon immer gewusst, aber ich habe weggeschaut, weil ich dachte, ich kann
eh nichts dagegen tun. Sag mal, willst du einen Kaffee?» Ich möchte plötzlich ganz dringend einen. Mein Kopf braucht ein Stimulans,
um das alles verarbeiten zu können.
«Ich hole uns einen», sagt Chloë.
«Okay, danke.»
«Nimmst du Zucker?»
«Nein.»
Während sie fort ist, gehen mir immer wieder dieselben Worte durch den Kopf:
die Scheißkonzerne in den Ruin treiben. Die Scheißkonzerne in den Ruin treiben. Die Scheißkonzerne in den Ruin treiben.
Meine Güte. Chloë ist recht schnell wieder da, mit zwei großen Bechern Kaffee in der Hand. Ich habe schrecklich viele Fragen,
doch sie spricht weiter, sobald sie sich wieder gesetzt hat.
«NoCo ist eine weltweite Organisation», sagt sie leise. «Wir haben in fast allen Ländern und bei vielen Großkonzernen Leute.
Es gibt drei Grundregeln:
Tu kein Unrecht
;
Halt andere davon ab, Unrecht zu tun
und
Tu, was du kannst
. Den ersten Grundsatz, kein Unrecht zu tun, versuchen wir alle im täglichenLeben einzuhalten, aber er ist auch das große Ziel der ganzen Organisation. Um ihn umzusetzen, müssen wir andere davon abhalten,
Unrecht zu tun. Wir wollen erreichen, dass die Konzerne ihre Geschäfte führen, ohne sich dabei auf Ausbeutung, Mord und Gewalt
zu stützen. Deshalb setzen wir alles daran, den Unternehmen, die weiterhin an solchen Vorgehensweisen festhalten, Sand ins
Getriebe zu streuen. Wir sind Pazifisten, und einige von uns sind auch Marxisten, obwohl das keineswegs die Mehrheit ist.»
«Ich dachte, es gibt gar keine Marxisten mehr», sage ich zwischen zwei Schlucken von dem heißen, schwarzen Kaffee. «Ist die
verbreitete Ansicht nicht, dass der Marxismus gescheitert ist?»
«Wegen der Russen, meinst du? Und wegen der Chinesen?» Chloë lacht und nimmt selbst einen Schluck von ihrem Kaffee. «Das ist
alles ziemlich kompliziert. Wahrscheinlich gab es auch da schon ein paar echte Marxisten, so wie es in der Anglikanischen
Kirche auch den einen oder anderen Christen gibt. Genau weiß ich das nicht. Ich bin auch selbst keine Marxistin. Die meisten
von uns bei NoCo glauben einfach nur an Gleichheit – echte Chancengleichheit. Allerdings nicht diese komische Variante des
amerikanischen Traums, die besagt, dass alles erlaubt ist, solange man Profit daraus schlägt. Als wäre Profit die oberste
Priorität im Leben …»
Ich runzele die Stirn. «Es kann sich doch gar nicht jeder als oberstes Ziel setzen, Profit zu machen», sage ich. «Sobald man
Arbeitskraft verkauft anstatt sie einzukaufen, muss man schon einen Verlust in Kauf nehmen, denn wenn man seine Arbeitskraft
nicht für weniger verkauft, als sie wert ist, gibt es auch keine Gewinnmarge.» Die Mathematik der Ausbeutung.
«Jetzt hörst aber du dich an wie eine Marxistin», bemerkt Chloë lächelnd.
«Ach,
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