PopCo
Leute in Indien einfach angerufen, sich mit ihnen unterhalten und sich angefreundet.
Einer der Inder war bereits bei NoCo und hat eine Protestbewegung an seinem Arbeitsplatz organisiert. Eine Woche lang hat
dieses Call-Center, das als Telefonauskunftsdienst arbeitete, in etwa sechzig Prozent der Fälle eine falsche Nummer weitergegeben.
Jetzt will kein Mensch mehr dort anrufen. Das hängt alles zusammen.» Chloë reibt sich die Augen. «Stell dir mal vor, wir sind
denen eines Tages in einem Unternehmen tatsächlich zahlenmäßig überlegen. Wir bräuchten keinen Tag, um die ganze Firma lahmzulegen.
Ich denke mir oft, wie toll es wäre, wenn an einem bestimmten Tag irgendwer das Zeichen gibt, und wir bringen alle gemeinsam
die ganze Welt zum Stillstand. Stell dir das nur vor! Überall auf der Welt überweisen Buchhaltungsmitarbeiter Millionen an
soziale Wohnungsbauprojekte in verarmten Städten oder lassen Spendengelder in die Rentenkassen fließen und dann wegen irgendeines
‹Fehlers› sofort auszahlen. Angestellte löschen ihre Firmendaten, vergessen ihre Passwörter, schreddern wichtige Dokumente,
verkaufen Aktien und legen die öffentlichen Verkehrsmittel lahm. So, wie die Dinge derzeit liegen, hat jemand ausgerechnet,
dass wir die Unternehmen an einem einzigen konzertierten Aktionstag weltweit etwa fünfundsiebzig Milliarden Dollar kosten
könnten. Und diese Zahl wächst mit jedem Tag. Natürlich gibt es viele Leute, die finden, der Zusammenbruch müsse langsam und
organisch vor sich gehen, nicht einfach so über Nacht. Wenn alle großen Konzerne von einem Tag auf den anderen pleite wären,
würde ja ein gewaltiges Chaos ausbrechen.Das wollen wir nicht unbedingt. Wir wollen keine ‹Kollateralschäden›, wie unsere Feinde das nennen. Wir wollen beispielsweise
auf keinen Fall den Biobauernhöfen und den Krankenhäusern schaden.»
Aus irgendeinem Grund fällt mir dazu das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern ein. Ich denke darüber nach, dass die Schwäche
der großen Unternehmen heutzutage gerade darin liegt, dass sie Leute einstellen müssen, die für sie denken. Denken ist schließlich
alles. Früher, zum Beispiel in der Knopffabrik, wo mein Vater gearbeitet hat, konnte man die Arbeiter einfach entlassen und
trotzdem noch etwas Wertvolles zurückbehalten: das Rohmaterial, die Maschinen und die Entwürfe für die Produkte, die man herstellt.
Heute haben eigentlich nur die flüchtigen Ideen noch echten Wert, die Marketingpläne und die Logos und Labels, die der unsichtbaren
Maschinerie unseres Geistes entsprungen sind. Die Produktionsmittel – unsere Gedanken – gehören uns; wir können damit alles
produzieren, was wir wollen.
«Warum heißt die Gruppe eigentlich NoCo?», frage ich unvermittelt. «Funktioniert das in nicht englischsprachigen Ländern überhaupt?»
Chloë lächelt. «Oh, wir heißen natürlich nicht überall NoCo. Jedes Unternehmen hat seinen eigenen Namen dafür. Das ist ein
bisschen so wie Undercover-Marketing. PopCo hat NoCo, ein anderes Unternehmen hat eine andere Version. Wenn man beispielsweise
bei einem Unternehmen namens Smith ist, nennt sich die dortige NoCo-Entsprechung vielleicht Jones. Und so wie wir die weltweite
Organisation als NoCo bezeichnen, sagen die Leute dort Jones dazu. Das ist toll, weil wir dadurch nicht zu fassen und zurückzuverfolgen
sind und kein Mensch begreift, wie wir funktionieren. Bei uns gibt es keine Markennamen, kein Logo, keinen Papierkram und
keine Datenbank. Es sind nur zwei Dinge wichtig: dass wir miteinander in Kontaktbleiben und dass wir uns an die Grundprinzipien halten. Wenn man sich NoCo – oder der jeweiligen Version davon – anschließt,
verpflichtet man sich einfach nur, seine Arbeitskraft im positiven und nicht im negativen Sinn einzusetzen.»
«Das ist wirklich raffiniert», sage ich.
«Niemand kann das eigentlich bestätigen», fährt Chloë fort, «aber man vermutet, dass das Konzept und die ganze Struktur von
zwei Einwanderern in den USA entwickelt wurde, einem indonesischen Wirtschaftswissenschaftler, der eine Zeitlang unter falschem
Namen in einem Sweatshop gearbeitet hatte, und einem Science-Fiction-Autor aus dem Iran. Aber wie gesagt, das kann keiner
so recht beweisen.»
«Wow», sage ich.
Einen Augenblick lang schweigen wir beide. Aus dem Radio kommt ein einzelner Drumbeat, der wie eine Faust auf uns einschlägt.
«Chloë?», sage ich schließlich.
«Ja?»
«Hast
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