PopCo
Sie ging von dort …», sie deutet hin, «… bis rüber ans andere Ufer. Man zog sie aus dem Fluss, um ankommende Schiffe zum Kentern zu bringen.»
«Raffiniert», sage ich.
Jetzt sind wir an der Flussmündung, die Luft wird kühler, das Wasser unter uns unruhiger. Ich fröstele und ziehe meine Strickjacke
aus der Tasche.
«Gut, Alice», sagt Chloë. «Jetzt müsst ihr dann gleich mit dem Navigieren anfangen. Hol mal die Karte, dann zeige ich dir,
wo wir hinwollen.»
«Okay.» Ich klettere in die kleine Kajüte hinunter und merke, wie mir augenblicklich übel wird. Rasch krame ich die Karte
hervor und versuche, sie auseinanderzufalten, während ich wieder an Deck klettere. Doch wir sind ja inzwischen auf dem Meer,
das kleine Boot hüpft und schaukelt auf den Wellen, und jede Bewegung ist schwieriger. Als ich das Gleichgewicht gerade halbwegs
wiedergefunden habe, neigt sich das Boot unvermittelt nach hinten, und ich falle fast um.
«Muss das so sein?», fragt Grace Chloë.
«Ja, macht euch keine Sorgen», sagt sie. «Langsam, Alice.»
Ich muss an Francis Stevenson denken und kann mir zum ersten Mal vorstellen, wie schrecklich und einsam es auf See gewesen
sein mag. Aber es ist auch aufregend. Chloë ruft den anderen Befehle zu, und sie hissen die Segel, während sie den Motor abstellt.
Ich höre nichts als das Klatschen der Wellen, ihre Stimmen und den kaum wahrnehmbaren Nachhall von Motorengeräuschen in der
Ferne.
Mein Innenleben findet das alles gar nicht toll. Mir ist übel. Ich unterdrücke den Brechreiz und lege mir die Hand auf den
Bauch.
«Das ist anfangs immer ein ziemliches Geschlinger», sagt Chloë zu mir. «Wenn du willst, kannst du nach unten gehen, aber da
wird es meistens noch schlimmer. Mach dir keine Sorgen. In ein paar Minuten, wenn wir richtig segeln, geht’s dir wieder besser.»
Es fühlt sich an, als säße man in einer Flasche, die in rascher Folge immer wieder ins Wasser getaucht und herausgezogen wird.
Unser Boot ist winzig, und das Meer erscheint plötzlich groß wie die ganze Welt. Auf einer Karte betrachtet wären wir noch
ziemlich nah am Ufer, doch hier draußen fühlt sich auchdas völlig anders an. Als das Boot sich unvermittelt heftig zur Seite neigt, klammere ich mich am Geländer fest.
«Festhalten», ruft Chloë.
«Lieber Himmel», murmelt Grace.
Ich versuche immer noch, die Karte auseinanderzufalten.
«Hast du es dir draußen auf dem Meer so vorgestellt?», fragt mich Ben.
«Was ist mit dir?» Ich ziehe eine Linie auf der Karte, um unsere Position zu bestimmen. Wir sehen immer noch Land, ich mache
alles so, wie Dan es mir gezeigt hat, und nutze den Leuchtturm und den Aussichtsturm, ein merkwürdig graues, dreieckiges Gebilde
auf der Landzunge, als Orientierungspunkte.
«Nicht ganz. Ich hätte gedacht, es wäre weniger wild.»
Mein Magen hat sich inzwischen wieder beruhigt, und eigentlich gefällt mir diese ungezügelte Kraft unter uns ganz gut.
«Fertigmachen zum Halsen!», ruft Chloë. Das ist das Stichwort für Ben, mit Hilfe eines Taus, das an einer Klampe direkt hinter
mir befestigt ist, das Segel zu drehen. Ich beuge mich vor, und als Chloë das entsprechende Kommando gibt, lässt Esther am
anderen Ende des Boots die Leine los, und Ben holt hektisch sein Tau ein, um es dann wieder an der Klampe zu befestigen.
«Was wolltest du mich eigentlich vorhin fragen?», erkundigt er sich, als sich die allgemeine Aktivität wieder etwas gelegt
hat.
«Es könnte noch ein paar Bootsfahrten erfordern», sage ich.
«Ach herrje.»
«Fertigmachen zum Halsen!»
«Ich erklär’s dir später», sage ich, lecke mir Salz von den Lippen und beuge mich wieder vor.
Irgendwie gelingt es mir, uns zu der Bucht zu navigieren, die Chloë mir auf der Karte gezeigt hat. Ben hilft ihr, den Anker
auszuwerfen. Chloë hat aus der Windrichtung geschlossen, dass es in der Bucht einigermaßen windgeschützt sein dürfte, und
das Meer ist hier tatsächlich ganz ruhig und still. Unser kleines Boot schaukelt sanft, wir strecken uns, seufzen und zünden
uns Zigaretten an.
«Und, wer von euch segelt gern?», fragt Chloë.
Einige stöhnen.
«Ich», sagt Ben.
«Ja, ich auch», sage ich.
Hiro ist ziemlich grün um die Nase. «Ich gehe ein bisschen nach vorn», sagt er. «Ich muss mal durchatmen. Und wieder zu mir
kommen …»
Wir holen den Picknickkorb aus dem Schrank in der Kombüse. Darin finden wir knuspriges Baguette, Hummus mit
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