PopCo
sie etwa fünf Löcher von den verschiedenen Heftzwecken, mit denen sie über die Jahre hinweg an verschiedene Pinnwände
geheftet wurde. In der oberen rechten Ecke ist eine kleine Kritzelei – ein paar Quadrate und ein Dreieck – und etwa in der
Mitte des rechten Rands befindet sich ein zunehmend durchgefärbter Schnörkel, wie man ihn erhält, wenn man versucht, einen
neuen Kuli zum Schreiben zu bringen. Links unten steht eine Telefonnummer mit der alten Londoner Vorwahl 01. Ich denke gerade darüber nach, die Nummer zu wählen (ob sie jetzt wohl die Vorwahl 020 7 oder 020 8 hat?), als mir auffällt,
dass das Blatt sich noch auf andere Weise von dem Foto von 1982 unterscheidet. Auf diesem hier befindet sich neben mehreren
Buchstaben der Tabelle – E, T, A, R, I, S, L, C – ein kleiner blauer Punkt.
Eine Zeitlang schaue ich einfach nur zwischen der Häufigkeitstabelle in meiner Hand und dem Foto hin und her. Dann stehe ich
auf und hole die Lupe meines Großvaters wieder aus der Schublade. Ich betrachte das Foto noch einmal und entdecke durch das
Vergrößerungsglas eine Besonderheit. Auf der Häufigkeitstabelle auf dem Schreibtisch lässt sich jetzt, gleich neben dem Füllerdeckel,
als oberster Buchstabe das E ausmachen. Daneben befindet sich ein blauer Punkt. Doch keiner der anderen Buchstaben weist einen
solchen blauen Punkt auf. War mein Großvater etwa gerade dabei, die Buchstaben zu markieren, als der unbekannte Fotograf ihn
gestört hat? Aber wozu? Das ergibt keinen Sinn für mich. Es war dasJahr 1982, er hatte gerade das Stevenson-Heath-Manuskript entschlüsselt, das mit Zahlen und nicht mit Buchstaben arbeitet.
Und er hatte seinen Atlas schon auf dem Schreibtisch liegen. Wozu brauchte er da noch die Häufigkeitstabelle? Und wieso hat
er einzelne Buchstaben darauf markiert? Ich kenne meinen Großvater gut. Er hatte ganz sicher noch nicht mit etwas anderem
angefangen, schließlich lagen noch alle Stevenson-Heath-Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Und was immer sich auf seinem
Schreibtisch, dem wichtigsten Arbeitsort, befand, befand sich dort aus gutem Grund.
Und dann ist da natürlich noch etwas: Obwohl die Häufigkeitstabelle über jedem seiner Schreibtische hing, habe ich doch nie
erlebt, dass er sie tatsächlich konsultiert hätte. Er kannte sie längst auswendig.
Mir tut der Kopf weh. Vielleicht gibt es hier ja doch nichts weiter für mich zu entdecken.
Ich trinke meinen Tee aus, der inzwischen kalt geworden ist. Das Feuer ist fast verloschen. Ich hatte schon recht mit all
den Erinnerungen in diesem Zimmer. Doch ich muss nicht einmal nur an meinen Großvater denken, sondern auch an mich selbst
als Kind – obwohl ich diesen Raum hier als Kind gar nicht kannte. Ich erinnere mich an die verrückten Rezepte, die ich zusammengebraut
habe, in der Hoffnung, dabei zufällig auf eines zu stoßen, das mich unsichtbar machen oder mir Superkräfte verleihen würde.
Damals war ich vielleicht neun oder zehn und verbrachte ganze Nachmittage in der Küche, goss murmelnd alle möglichen Zutaten
in eine Schüssel. «Hmm», brummelte ich vor mich hin. «Ein ganz klein wenig Mehl zusammen mit einem winzigen Teelöffel Marmelade.
Dann braucht man nur noch einen halben Liter Wasser, ein paar Körnchen Backpulver und einen Eierbecher voll Liebesperlen …» In diesem Alter glaubte ich noch, dass Erfindungen grundsätzlich Zufall seien; schließlich war ich mit Geschichtenüber unbeabsichtigte wissenschaftliche Entdeckungen groß geworden. Ich wusste, dass Alexander Fleming seinen lebensrettenden
Schimmel nur durch Zufall auf einem verunreinigten Versuchsteller gezüchtet hatte, aber es waren ja noch so viele andere Dinge
durch puren Zufall entdeckt worden. Das Eis am Stiel entstand, weil ein Kind einen Becher mit Fruchtsaft und einem Löffel
darin über Nacht draußen stehen ließ, und die Idee für den Klettverschluss entstand, als Georges de Mestral einmal mit Kletten
übersät von einem Spaziergang nach Hause kam. Ich war überzeugt, dass auch ich auf mein eigenes Zufallsmoment stoßen würde,
wenn ich nur lange genug in der Küche herumwerkelte und völlig beliebige Mixturen erstellte. Doch es blieb aus. Und inzwischen
kann ich wohl mit einiger Sicherheit behaupten, dass ich auch seither keinen solchen «glücklichen Zufall» erlebt habe. Alles,
was ich erreicht habe, verdanke ich der Logik und der rationalen Schlussfolgerung. Und obwohl ich
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