Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
PopCo

PopCo

Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
Vom Netzwerk:
natürlich die Papiere, die ich immer einmal an einem
     langen Wochenende sortieren wollte: zahllose handgeschriebene Seiten mit Notizen, die meisten davon unleserlich, entweder
     wegen der Handschrift meines Großvaters oder aber, weil sie größtenteils als Geheimtext verfasst sind. Ich bin mir sicher,
     dass die Lösung teilweise hier und teilweise in meinem Medaillon zu finden ist, aber ich weiß einfach nicht, wie beides zusammenpasst.
    Ich setze mich im Schneidersitz mit einem Stapel Papier auf den Boden und fange an, die Unterlagen durchzusehen, doch nach
     einer Stunde habe ich immer noch nichts gefunden,was mir auch nur irgendwie weiterhelfen würde. Es sind zwei Aufsätze in Klartext-Englisch darunter, einer zum Thema «Ausbeutung
     am Arbeitsplatz», der andere mit dem Titel «Erinnerungen an das SOE». Doch die allermeisten Papiere enthalten einfach Zahlenreihen,
     Codes im Stil von Beale – im Stil von Stevenson. Ich weiß nicht recht, wie ich es anstellen soll, sie zu sortieren und zu
     ordnen. Soll ich sie vielleicht mit nach unten nehmen und mir erst mal einen Tee machen? Oder alles auf ein anderes Mal verschieben?
     Nein. Das Feuer brennt, es wird langsam warm im Zimmer. Besser, ich mache mir einen Tee und hole ihn hier herauf. Genau. Ich
     werde mir einen Tee machen, und dann werde ich diese Unterlagen durchsehen, egal, wie lange es dauert. Nachdem ich diese Entscheidung
     getroffen habe, nehme ich ein paar Fotos mit, die ich mir ansehen will, während das Wasser kocht, und gehe nach unten.
    Atari liegt auf dem Ofen und schläft. Das kann ich gut verstehen: Es ist auch wirklich kalt heute Abend. Ich setze das Teewasser
     auf und lehne mich dann selbst an den Ofen, um mir den Rücken zu wärmen. Dann sehe ich mir die Fotos an. Viele davon kenne
     ich noch gar nicht. Fotos von meinem Vater mit Bart und Jeans und immer wieder auch von meiner Mutter, wie sie im Garten des
     Stadthauses meiner Großeltern in der Sonne sitzt und liest. Ein Foto zeigt meinen Großvater in seinem alten Arbeitszimmer,
     wo er am Schreibtisch posiert, und das Funkeln in seinen Augen zeigt mir, dass dieses Foto einen durchaus ernsten Anlass hat,
     den er jedoch nicht ganz ernst nimmt. Ich kann mich nicht mehr allzu gut erinnern, wie es in dem kleinen Zimmer aussah, weiß
     aber noch, dass es dort immer nach Erde roch und nach Bleistiftspänen. Mein Großvater hat sich auf dem Foto in seinem Stuhl
     zurückgelehnt und die Beine übereinandergeschlagen, das rechte über das linke. Es ist ein gut komponiertes Foto und wurde
     von der Seite aufgenommen, sodass mein Großvater die rechte und seinSchreibtisch die linke Bildhälfte einnimmt. Sein Schreibtisch ist so unordentlich, wie man das von ihm gewohnt war.
    Ich frage mich, wer das Foto wohl gemacht hat. Meine Großmutter kann es nicht gewesen sein, denn auf dem nächsten Bild sitzt
     sie lachend auf seinem Schoß und trägt – ein völlig absurder Anblick für mich, weil ich sie nie anders als voll bekleidet
     gesehen habe – einen gelben Badeanzug. War es vielleicht meine Mutter? Hat sie diese Fotos gemacht? Das nächste zeigt meinen
     Großvater dabei, wie er etwas an die Pinnwand über seinem Schreibtisch heftet oder vielleicht auch entfernt. Ich betrachte
     die drei Fotos noch einmal. Sie kommen mir vor wie ein durcheinandergeratener Text, eine nichtlineare Geschichte. Die grobe
     Abfolge ist allerdings klar. Mein Großvater war im Arbeitszimmer damit beschäftigt, irgendein Dokument von seiner Pinnwand
     zu entfernen, als jemand, vermutlich meine Mutter, ihn mit dem Fotoapparat störte. «Komm schon, Dad», wird sie wohl gesagt
     haben, «wir haben es gerade so lustig draußen.» Danach hat sie ihn an seinem Schreibtisch postiert, um zu dokumentieren, dass
     er drinnen hockt, während alle anderen draußen in der Sonne sind. Und schließlich kam auch meine Großmutter dazu, um ihn ein
     wenig zu necken und sich für das nächste Foto auf seinen Schoß zu setzen.
    So kann es aber nicht gewesen sein, weil meine Mutter zu dem Zeitpunkt längst tot war. «Im langen, heißen Sommer 1982», steht
     hinten auf den Fotos. 1982.   Das Jahr, bevor ich zu meinen Großeltern gezogen bin. Das Jahr, bevor mein Vater verschwand. Ich habe meine Großeltern in
     diesem Jahr nur selten gesehen, und überhaupt nicht mehr, nachdem mein Vater seinen großen Streit mit meinem Großvater hatte.
    Der Wasserkessel pfeift, ich lege die Fotos beiseite und gieße kochendes Wasser in meinen

Weitere Kostenlose Bücher