PopCo
… um mich abzulenken von den beiden Männern und der Angst im Dunkeln und all dem? Das war nämlich der Effekt, und …»
Er sah wieder stirnrunzelnd zu mir auf. «Nein», sagte er. «Nein. Ich wollte dir die Primzahlfaktorisierung beibringen. Ich
wollte ganz sichergehen, dass du immer weißt, wie das geht.»
Jetzt stehe ich vor der Tür des Arbeitszimmers, denke an dieses Gespräch zurück und frage mich:
Warum ausgerechnet dieses Gespräch? Und warum jetzt, wo ich doch gerade dachte, ich könnte einmal in meinem Leben über nichts
Komplizierteres nachdenken als nur über den Mond? Warum reicht das plötzlich nicht mehr?
Seit mein Großvater tot ist, habe ich das Arbeitszimmer kaum mehr betreten. Es ist, als wären all unsere Gespräche und all
die Dinge, die wir gemeinsam gemacht haben, dort drinnen verschlossen. Aber jetzt werde ich die Tür öffnen und hineingehen.
Und ich werde nicht losheulen. Was mir allerdings sehr schwerfällt: Im Kamin liegt ein trauriger, kleiner Stapel Kohlen, darauf
zwei Feueranzünder und etwas Brennmaterial. Ich erinnere mich, das alles selbst bereitgelegt zu haben, in der Nacht, nachdem
mein Großvater gestorben war. Dann habe ich es aber doch nicht fertiggebracht, das Feuer anzuzünden. Ich saß einfach nur in
seinem Ohrensessel, betrachtete seine Notizen, seine Lupe und alles im Zimmer und fragte mich, wieso diese Gegenstände eigentlich
nicht bemerkten, dass sich in ihrer Welt etwas ganz Entscheidendes veränderthatte, dass sie jetzt niemandem mehr gehörten. Ich hätte mir gewünscht, sie würden sich einfach selber aufräumen, damit ich
das nicht zu tun brauchte. Damit ich mir nicht einzugestehen brauchte, dass alles vorbei war und ich nicht wusste, wie es
weitergehen sollte.
So saß ich vielleicht zehn Minuten dort; dann stand ich auf, ging nach unten und schaltete meine Spielkonsole ein.
Heute allerdings zünde ich das Feuer an. Ich halte die Flamme dicht an den weißen, öligen Anzünder, bis er Feuer fängt, dann
räume ich ganz ruhig Lupe, Bleistift und Papiere von dem kleinen Beistelltisch meines Großvaters und lege alles beiseite.
Anschließend nehme ich die Bücher, die in einem Stapel auf dem Fußboden liegen, und räume sie eins nach dem anderen zurück
ins Regal, jedes an seinen Platz. Seltsam, wie er eigentlich immer seinen ganz eigenen Code hinterließ, dem man entnehmen
konnte, woran er gerade arbeitete. Eine Lupe, eine Seite des Voynich-Manuskripts, mein blaues Heft und Listen über Listen
von Zahlen und mathematischen Funktionen … Man muss ihn natürlich gut kennen, um diesen Code zu entschlüsseln, doch vorhanden ist er. Das Material rund um den Sessel
erzählt eine ganz einfache Geschichte: Am Tag vor seinem Tod hat mein Großvater am Voynich-Manuskript und an nichts anderem
gearbeitet. Genau das denke auch ich jetzt. Ich denke nicht mehr ständig:
Er ist tot, er ist tot, mein Gott, er ist tot
. Stattdessen denke ich daran, wie sehr ich ihn geliebt habe, was ja ein völlig anderer Gedanke ist, und einen Augenblick
lang stelle ich mir vor, wie er im Himmel in einem transfiniten Buch liest. Und während die Flammen höher lodern und ihr Widerschein
auf die roten Wände des Zimmers fällt, überlege ich mir, ob ich meinen Schreibtisch nicht wieder hier heraufstellen soll (seit
dem Tod meines Großvaters steht er unten). Er kennt jetzt sicher alle Antworten. Bestimmt weiß er auch, ob das Voynich-Manuskript
eine Fälschung ist. Und ich wette,meine Großmutter weiß inzwischen alles, was sie schon immer über die Riemann’sche Vermutung wissen wollte.
Nur eines stört mich immer noch: Die Welt ahnt nichts davon, dass mein Großvater das Stevenson-Heath-Manuskript entschlüsselt
hat. Ich will in meinem Buch darüber schreiben, doch es ist mir nie gelungen, den Code in meinem Medaillon zu entschlüsseln.
Was hat es für einen Sinn, ein Buch ohne Auflösung zu schreiben? Bis jetzt weiß ich nur, dass 2.14488156Ex48 eine Art Abkürzung
für eine sehr viel längere Zahl ist. Das fand ich in der Zeit heraus, als ich zum ersten Mal von Gödels Unvollständigkeitssatz
las und seinen Zahlencode ausprobierte. Alle meine Berechnungen ergaben Zahlen, die so groß waren, dass sie nicht mehr auf
meinen Taschenrechner passten. Und in diesen Fällen zeigte er etwas an, das mich stark an die Zahlen und Buchstaben auf meinem
Medaillon erinnerte. 2.14488156Ex48 steht eigentlich für 2 144 881 560
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