PopCo
schmalen, zunehmenden Mond, und dass das, was da in der Hecke vor der Scheune raschelt,
garantiert nur ein Dachs ist.
Die alte Holztreppe knarrt beim Hochgehen. Wieder halte ich mir die Angst damit vom Leib, dass ich mich einfach auf die Musik
der Stufen konzentriere. Es sind lauter Mollakkorde, aus denen sich keine einzelnen Noten heraushören lassen. Aber als das
allerwirksamste Beruhigungsmittel erweisen sich diese Mollakkorde alter Holzstufen auch nicht, denn als ich die Tür zum Schlafsaal
öffne, erschrecke ich so sehr, als hätte mir jemand einen Schuss Adrenalin verpasst: An einem der Betten steht ein leicht
gammliger junger Typ, der etwas Weißes in der Hand hält.
«Scheiße!», entfährt es mir.
Auch er zuckt zusammen. «Verdammte Hacke!»
«Entschuldige», sage ich. «Du hast mich erschreckt.»
«Du mich auch», erwidert er.
«Was machst du … Ich meine …» Eigentlich will ich ihn ganz direkt fragen, was er hier zu suchen hat, doch die entsprechenden Worte fallen mir nicht ein.
Er wird ja wohl nicht hier schlafen? Irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass die Schlafräume nach Geschlechtern getrennt
sind.
«Sorry», sagt er. «Ich soll das hier abgeben, aber ich weiß nicht, wem welches Bett gehört.» Seine Hand zittert, als er sie
hebt, um mir «das hier» zu zeigen. Es ist ein Briefumschlag, auf dem in blauer Tinte mein Name steht.
«Das bin ich», sage ich und deute auf den Namen.
«Ach … super», sagt er, drückt mir den Umschlag in die Hand und geht zur Tür.
«Danke», rufe ich ihm noch nach, doch er ist schon wieder weg.
Ich reiße den Umschlag auf. Drinnen findet sich ein ausgedruckter Brief:
Liebe Alice Butler, wir möchten Dich bitten, so bald wie möglich in das Zimmer 23 im Haupthaus umzuziehen. Leider ist uns
bei der Zimmerverteilung ein Fehler unterlaufen, und wir möchten uns für die entstandenen Unannehmlichkeiten bei Dir entschuldigen.
Falls Du bei irgendwelchen Fragen, auch persönlicher Natur, Unterstützung brauchst, wende Dich bitte an Helen Forrest unter
der Durchwahl -934.
Keine Unterschrift. Das mit der Durchwahl verstehe ich nicht. Bisher habe ich hier noch kein einziges Telefon gesehen, schon
gar keines, das an das PopCo-Netz angeschlossen wäre. Aber vielleicht gibt es so etwas ja in meinem neuen Zimmer, wo immer
das ist.
Mein Tabaksbeutel liegt noch so auf dem Bett, wie ich ihn liegen gelassen habe. Ich greife danach, drehe mir eine dünne Zigarette
und rauche sie am offenen Fenster, während ich eine dicke Motte beobachte, die immer wieder gegen die Lampe an der Außenmauer
fliegt. Dann muss ich also mal wieder umziehen. Als ich fertig geraucht habe und meine Gedanken wieder etwas ruhiger und geordneter
sind, packe ich meine Sachen zusammen.
Im Dunkeln erscheint das Haupthaus wie der Zufluchtsort aus einem Rollenspiel, den man erst erreicht, nachdem man sich durch
einen Wald voller Banditen gekämpft hat. Wenn mansich von hinten nähert und nicht durch den Haupteingang oder die Tür zum Großen Saal, sieht es aus wie eine Zeichnung aus
Dans Skizzenbuch: leicht verschwommen im orangefarbenen Licht der Außenbeleuchtung, umgeben von einem Schatten aus tanzenden
Motten. Eigentlich, denke ich, müsste man jetzt Flöten- und Fiedelmusik hören und das trunkene Klirren von Kelchen in den
Händen von Kobolden und Elfen. Doch es ist vollkommen still. Nachdem ich einen steinernen Torbogen durchquert habe, sehe ich
vor mir ein gepflegtes Rasenrechteck und rechts und links davon zwei Gebäudeflügel, die viele kleinere Zimmer zu beherbergen
scheinen. Hinter ein paar Fenstern brennt Licht, auch wenn ich keine Leute sehe. Als ich mich gerade mental darauf vorbereite,
mich hoffnungslos zu verlaufen, entdecke ich ein kleines Schild, das nach links zu den Zimmern 26 – 51 weist. Ich schaue nach rechts und sehe ein weiteres Schild mit dem Hinweis auf die Zimmer 1 – 25. Da muss ich hin.
Ich lasse das Rasenrechteck links liegen, gehe durch einen überdachten Gang mit Steinfußboden und zähle dabei die Zimmer rechts
von mir. Ob früher einmal Schwertkämpfe auf diesem Rasen stattgefunden haben? Man sieht es fast vor sich, obwohl ich es nicht
schaffe, mir Tote und Blutvergießen vorzustellen, sondern nur die Duellanten, die einander bei Tagesanbruch gegenübertreten.
Dann geht es eine Steintreppe hinauf, durch einen schmalen Flur mit Teppichboden und Kunst an den Wänden und dann noch ein
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