PopCo
Als sie ankommen, finden
sie die halbe Stadt imSchlosshof versammelt, in Erwartung des Schauspiels, das sich dort vollziehen wird. Der Boden des Hofs ist ganz mit kleinen
schwarzen und weißen Steinen bedeckt – ein ausgefallener und eleganter Kiesbelag, auf den der reiche Mann dem Vernehmen nach
besonders stolz ist. Die Steine erinnern ihn an das Schachspiel, seine liebste Zerstreuung, und er scheut keine Kosten und
Mühen, um regelmäßig neue heranzuschaffen. Eigentlich ein Jammer, dass er kein Go-Spieler war, denn sein Hof war im Grunde
mit lauter Go-Steinen übersät.
Sobald also genug Publikum versammelt ist, tritt der Mann nach draußen, um zu der Menge zu sprechen. Auf möglichst demütigende
Weise berichtet er, dass der unglückselige Kaufmann ihm Geld schulde, ihm aber stattdessen seine Tochter angeboten habe. Als
er das hört, wird der Vater furchtbar zornig. Schließlich hat er dem Mann seine Tochter nicht freiwillig ‹angeboten› – er
wurde dazu gezwungen! Seine Frau beruhigt ihn. Sie fürchtet, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn er den reichen Mann
gegen sich aufbringt. Im Schlosshof haben schon häufig Hinrichtungen stattgefunden, und sie will nicht ihre Tochter oder ihren
Mann als nächstes Opfer sehen müssen. Schließlich kommt der reiche Mann zum Schluss seiner langen Rede und wendet sich direkt
an den Vater der jungen Frau. ‹Hier habe ich einen Beutel›, sagt er, ‹in den ich nun einen schwarzen und einen weißen Stein
vom Boden meines Hofes legen werde. Zieht deine Tochter den weißen Stein aus dem Beutel, darfst du sie noch heute mit dir
nach Hause nehmen, und deine Schulden werden dir erlassen. Erwischt sie aber den schwarzen Stein, dann gehört sie mir, und
du wirst sie niemals wiedersehen. Nimmst du den Vorschlag an?› Dem Kaufmann bleibt keine Wahl. Er willigt ein.
Nun führt ein Diener die junge Frau auf den Hof hinaus. Sie weint nicht, sondern wirkt mutig und gefasst. Man unterbreitet
ihr den Vorschlag, und sie nickt dazu. Eine fünfzigprozentigeChance, freizukommen, ist immerhin mehr, als sie sich bisher erhofft hat, und sie betet, dass sie den richtigen Stein erwischt.
Dann bückt sich der reiche Mann und hebt zwei Steine vom Boden auf. Er dreht sich dabei so, dass die Zuschauer nicht sehen,
was er tut, doch die junge Frau beobachtet, dass er zwei schwarze Steine nimmt und in den Beutel steckt. Eine unfassbare Ungerechtigkeit!
Durch einen so bösen Trick kann sie sich unmöglich dazu verurteilen lassen, den Rest ihres Lebens in seinen Diensten zu verbringen
und sich seinen sadistischen Forderungen zu beugen …»
«Schmückst du das alles nicht ein bisschen aus, Butler?», fragt Dan lachend.
«Nein», protestiere ich und muss dabei selber lachen. «Ich erzähle es genauso, wie ich es damals mit zehn gehört habe.»
Esther zieht ein sorgenvolles Gesicht. «Aber was macht sie denn nun?»
«Tja», sage ich. «Da kommt das laterale Denken ins Spiel. Es gibt eine Möglichkeit. Was kann sie tun?»
«Dem Kerl in die Eier treten und flüchten?», schlägt Dan vor.
«Nein, so funktioniert das nicht. Es ist ein laterales Rätsel, und das bedeutet, dass es eine richtig coole Lösung gibt. Wenn
man nicht selbst darauf kommt, erscheint sie einem vielleicht ein bisschen wie … wie die Pointe eines Witzes oder so. Es liegt so klar auf der Hand, dass man sich fragt, wieso man eigentlich nicht selbst
dran gedacht hat.»
«Sie kann aber auch nicht einfach verraten, was er getan hat?», fragt Esther.
«Nein. Sie kann ihn ja nicht als Lügner oder Betrüger bezeichnen, ohne Gefahr zu laufen, dass man sie dafür hinrichtet. Sie
muss ihn einfach ihrerseits austricksen. Wie kann sie das schaffen?»
KAPITEL ELF
W arren wandert bereits seit geraumer Zeit durch den Raum. Jetzt bleibt er an unserem Tisch stehen und wirft einen neugierigen
Blick auf unsere Notizblöcke. Esthers Blatt hat inzwischen einige Ähnlichkeit mit einem kubistischen Stillleben, meines ist
völlig leer. Dan hat die Außenansicht eines italienischen Restaurants gezeichnet, vor dem ein Mann tot auf dem Boden liegt,
eine Pistole in der Hand.
«Sehr gut.» Warren deutet auf Dans Zeichnung. «Mehr der visuelle Typ, was?»
«Ich mache Verpackungsdesign», erwidert Dan.
«Und, kommt ihr voran?», fragt Warren uns.
«Schleppend», sagt Esther.
«Ich glaube ja, dass es irgendwas mit einem Albatros zu tun hat, obwohl ich gar nicht recht weiß, warum», bemerke
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