PopCo
das Rätsel steht.
Sie runzelt die Stirn und malt dann säuberlich ein Quadrat auf ihren Block. Anschließend fügt sie perspektivische Linien hinzu
und verwandelt das Quadrat in einen Kubus, dessen eine Seite sie schattiert. Der perfekte Schattenwurf. Lustig: Meine eigenen
Kritzeleien sehen fast genauso aus, obwohl bei mir oft noch Spiralen in Rechtecken dazukommen.
«Was meinst du dazu?», fragt Esther Dan.
«Was weiß ich?», antwortet er. «Es muss irgendwelche Hinweise in der Fragestellung geben. Anders kann’s ja wohl nicht sein.»
«Eine Million Pfund», murmelt Esther zerstreut.
«Was machst du denn für ein Gesicht, Butler?», fragt mich Dan.
«Das ist wirklich das blödeste Lateral-Rätsel, das es gibt», sage ich. «Es ist völlig sinnlos. Wenn schon, dann hätte er uns
wenigstens das mit den schwarzen und den weißen Steinen geben können. Da ist die Lösung zumindest noch halbwegs originell.»
Mit «er» meine ich den Workshop-Leiter. Er heißt Warren und ist auf Teambuilding und Problemlösung spezialisiert. Normalerweise
arbeitet er für eine kleine, exklusive Ideenentwicklungsagentur in London namens
Lattice
.
Wir sitzen in einem Raum auf der Südseite des kleinen Anbaus gleich neben dem Haupthaus. Zumindest nehme ich an, dass es die
Südseite ist, denn es fällt bereits Sonne ins Zimmer. Als Kind war ich eine Zeitlang ganz besessen vom Kompass- und Kartenlesen.
Inzwischen weiß ich eigentlich nur noch, dass junge erfolgreiche Mittelständler es schätzen, wenn ihr Garten nach Süden ausgerichtet
ist.
Wir sind etwa fünfundzwanzig Leute: alle, die auch am Samstagabend bei Macs geheimem Treffen waren. Warren sitzt vorne und
blättert in seinen Unterlagen, die anderen knobeln an dem seltsamen Rätsel herum. Ich schaue düster auf den Zeitplan, der
uns ausgeteilt wurde: Lateral-Rätsel bis zur Mittagspause, am Nachmittag dann ein Workshop mit dem Titel «Denkprozesse». Am
frühen Abend haben wir eine Meditationsstunde, und für den nächsten Tag ist Teambuilding angesetzt. Alle Teambuilding-Maßnahmen,
die ich bisher erlebt habe, waren großstädtische Flipchart-Angelegenheiten, aber irgendwann habe ich mal einen Artikel über
Nachwuchsmanager gelesen, die über glühende Kohlen laufen, mit klapprigen Flößen über reißende Ströme schippern und sich dabei
wechselseitig die Augen verbinden mussten. Ich hoffe sehr, dass uns nichts Derartiges bevorsteht.
«Wie geht denn das Rätsel mit den schwarzen und den weißen Steinen?», fragt Dan.
«Es ist ziemlich lang», warne ich.
«Ach, komm schon.» Er legt seinen Stift beiseite. «Mit dem hier komme ich eh nicht zurande. Und wenn ich ein Beispiel höre,
verstehe ich vielleicht eher, in welche Richtung es gehen soll.»
Ich schaue Esther an, die ebenfalls interessiert wirkt. «Gut, von mir aus. Also, es geht folgendermaßen. Ein Kaufmann ist
in eine Notlage geraten und leiht sich Geld von einem äußerst wohlhabenden, aber auch sehr bösen Mann. Als die erste Rate
fällig wird, kommt der Diener des reichen Mannes und erklärt dem Kaufmann, er müsse zusätzlich noch eine beträchtliche Menge
Zinsen zahlen. Der Zinssatz ist so hoch, dass er die Mittel des Kaufmanns übersteigt, und so trägt er dem Diener auf, seinem
Gläubiger zu sagen, dass er diese hohe Summe nicht aufbringen könne, aber bereit sei, ihm stattdessen Teile seines Viehbestands
zu überlassen. Am nächsten Tag kommt der Diener mit einem neuen Vorschlag zurück. Der Kaufmann hat eine bildschöne Tochter,
die dazu noch klug ist und von allen Männern im Königreich umworben wird. Wenn er dem bösen, reichen Mann seine Tochter als
Sklavin gibt …»
«Als Sexsklavin?», erkundigt sich Esther.
Ich muss grinsen. «Ja, schon möglich. Wenn er dem bösen, reichen Mann also seine Tochter gibt, wird ihm seine ganze Schuld
erlassen. Wenn nicht, wird er alles verlieren, was er hat, und die Familie wird hungers sterben. Es ist eine schreckliche
Entscheidung, doch schließlich trifft die Tochter sie für ihn. Sie tritt mit gepacktem Koffer vor ihren Vater hin, fest entschlossen,
sich dem reichen Mann zu opfern. Ihre Eltern weinen beide bitterlich, als sie in seiner Kutsche davonfährt, denn sie fürchten,
sie niemals wiederzusehen. Doch der reiche Mann ist nicht nur böse, sondern auch verschlagen und sadistisch. Einen Monat später
ruft er die Eltern des schönen Mädchens auf sein Schloss, um ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten.
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