PopCo
warum gerade sie im Ballon bleiben sollen. Als ich an der Reihe bin, fackele ich nicht lange und stelle mich als bereitwilliges
Opfer zur Verfügung. Das ist beim Heißluftballonspiel eigentlich nicht vorgesehen.
Ben wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, dann sagt er: «Ja, mich könnt ihr auch rauswerfen.» Seine Stimme klingt tief, als
säße er ganz unten auf dem Grund eines dunklen Brunnenschachts.
Und damit ist das Heißluftballonspiel am Ende.
***
Am Rand meines Bootes sind jetzt dreizehn Kerben. Seit Kerbe sieben ungefähr war ich nicht mehr in der Schule. Ich habe nicht
gebadet und mir auch nicht die Haare gewaschen. Allein baden darf ich zwar, aber nicht allein Badewasser einlassen. Anscheinend
kann auch da das Wasser zu heiß werden, und dann verbrennt man sich beim Reinsteigen. Und obwohl sich das ziemlich unwahrscheinlich
anhört, muss ich mich nun mal an die Regeln halten.
Am vierzehnten Tag, noch bevor ich die vierzehnte Kerbe in den Bootsrand machen kann, kommen meine Großeltern. Offenbar hat
mein Vater ihnen eine Postkarte geschrieben, auf der er sich dafür entschuldigt, dass er «einfach so» verschwunden ist, und
nach mir fragt. Daraufhin gerieten sie in Panik. «Danke, dass Ihr Euch um Alice kümmert» – was konnte mein Vater damit meinen?
War ich am Ende tot? Als sie mich lebend vorfinden, bricht meine Großmutter in Tränen aus, und mein Großvater strahlt, als
hätte er gerade im Lotto gewonnen.
«Du wirst jetzt bei uns wohnen, Alice», sagt meine Großmutter liebevoll zu mir.
«Das wird auch allerhöchste Zeit», fügt mein Großvater hinzu.
Ich stelle mir vor, dass mich ein Fischkutter an Bord genommen hat.
Am Ende stellt sich heraus, dass es sehr viel besser ist, bei meinen Großeltern zu wohnen, anstatt allein mit meinen selbstgemachten
Regeln und Verboten zu Hause zu bleiben. Die Fahrt zu ihrem Haus ist wie in einem Buch, wenn die großen Ferien anfangen und
die Kinder von zu Hause an einen viel aufregenderen Ort aufbrechen, um Abenteuer zu erleben, bei denen es um Wildnis, Schlamm,
hastig errichtete Unterstände und kleine, verlassene Inseln geht. Während wir im Morris Minor die Straße entlangbrausen, schmieden
meine Großeltern flüsternd Pläne, und ich schaue aus dem Fenster auf die grasbewachsenen Böschungen und überlege mir, was
dort wohl für Tiere leben. Ich habe bisher nur ein paarmal bei meinen Großeltern übernachtet, und das ist auch schon ziemlich
lange her. Vor einiger Zeit sind sie aus ihrem großen Backsteinhaus im Zentrum von Cambridge in ein kleineres Haus in einem
der umliegenden Dörfer gezogen. Vielleicht kann ich da ja reiten lernen? Wer weiß.
Ich bekomme ein eigenes Zimmer, das ganz anders aussieht als mein altes. Es hat hellrosa Wände, eine schräge, niedrige Decke
und steht voller ganz alter Möbel, darunter auch eine große, braune Kommode. Die Schubladen sind leer, als ich sie aufziehe.
Ist das etwa alles für mich? Aber es kommt noch besser: Als ich gerade mal fünf Minuten in dem neuen Zimmer stehe und noch
überlege, ob ich meine Sachen auch wirklich auspacken soll, kommt mein Großvater herein und überreicht mir ein handgemachtes
Holzschild mit der Aufschrift:
Alices
Zimmer
. Das muss er schon vorher gemacht haben, nicht erst in der Zeit zwischen der Nachricht, dass ich allein zurückgelassen wurde,
und dem Aufbruch in die Stadt, um mich abzuholen (ein Zeitraum, der nach meiner Schätzung kaum mehr als fünf Minuten betragen
haben dürfte). Dann hatte ich also immer mein eigenes Zimmer hier, und mein Großvater hat mir sogar ein Türschild gemacht.
Warum hat mir das bloß nie einer erzählt?
«Wir haben immer gehofft, dass du einmal für immer zu uns kommst», sagt mein Großvater in einem traurig-glücklichen Ton, und
ich wittere irgendwelche Erwachsenenverhandlungen, die ich nicht verstehe. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Streitereien
meines Vaters und meines Großvaters und der Tatsache, dass ich noch nie hier war? Bestimmt, auch wenn ich mir nicht vorstellen
kann, was für einen. Ich hatte doch gar nichts mit ihren Meinungsverschiedenheiten zu tun.
«Trägst du eigentlich dein Medaillon noch?», fragt mich mein Großvater, nachdem ich das Türschild in Empfang genommen und
aufs Bett gelegt habe.
«Ja, klar», sage ich und zeige ihm die dünne silberne Kette um meinen Hals. Natürlich trage ich es noch – er hat mir doch
gesagt, dass ich es niemals ablegen
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