PopCo
Wörter, die Bilder, alles eben. Und trotzdem ist es wie ein Buch aus einem Traum:
echt und doch nicht echt.
«Was ist das?», frage ich wieder.
«Das ist das Voynich-Manuskript», verkündet mein Großvater stolz.
«Und was macht man damit?»
«Man versucht, es zu lesen.»
«Heißt das, es ist verschlüsselt?»
«Oh ja. Das vermutet man zumindest. Das hier …» Vorsichtig schwenkt er die kopierten Blätter. «… ist eine der ältesten unentschlüsselten Geheimschriften der Menschheitsgeschichte. Und ich werde den Schlüssel knacken.»
«Darf ich dir dabei helfen?», frage ich, weil ich einfach nicht anders kann.
«Ja», sagt er. «Natürlich darfst du mir helfen.»
Wie bitte?! Ich darf also wirklich bei einem wichtigen, streng geheimen Erwachsenenprojekt helfen? Meine Güte! Etwas benommen
gehe ich hinauf in mein Zimmer und spitze alle meine Bleistifte.
Als das neue Schuljahr anfängt, verlaufen alle meine Tage nach demselben Muster. Ich stehe um halb acht auf, was mir gerade
genug Zeit lässt, mich anzuziehen und zu frühstücken, bevor ich zum Dorfbus rennen muss. Tracey wartet an derselben Haltestelle
auf ihren Schulbus, den ich nächstes Jahr, wenn ich die Schule wechsele, auch nehmen werde, aber wir reden nicht miteinander.
Manchmal schreibe ich im Bus Briefean Rachel, die wieder in ihrem Internat ist. Häufiger aber habe ich eine Seite aus dem Voynich-Manuskript dabei, mit der ich
mich am Abend zuvor beschäftigt habe, und vertiefe mich hinein. Nach der Schule gehe ich zurück zur Bushaltestelle in der
Stadt und atme die holzfeuergesättigte, marshmallowartige Herbstluft ein. Ich liebe diese Jahreszeit, wenn alle bereits anfangen,
für die Weihnachtsstücke und Märchenspiele zu proben, und die Luft wie von Zaubersprüchen erfüllt ist. Um diese Jahreszeit
ist es richtig kuschlig, aus der Schule nach Hause zu kommen, so als würde man wieder zurück ins Bett kriechen.
Wenn mein Bus unser Dorf erreicht, wird es meistens schon dunkel, und ich laufe durch den Park und die Hang Man’s Lane bis
zu dem Durchgang zu unserem Garten und gehe durch die Hintertür ins Haus. Mein Großvater macht fast jeden Abend einen Eintopf
aus Wurzelgemüse und Backpflaumen, und während der auf dem Herd köchelt, setzen wir uns an den Tisch, und mein Großvater erklärt
mir, wie weit er an diesem Tag mit dem Voynich-Manuskript gekommen ist. Ich bin noch nicht in dem Alter, wo man Hausaufgaben
hat, und so verbringen wir die meisten Abende mit der Arbeit am Manuskript, bis meine Großmutter nach unten kommt und von
uns erwartet, dass wir unsere Arbeit beiseiteräumen und ihr einen Drink machen. Auch für das Abendessen unterbrechen wir die
Arbeit, und danach schaue ich meinen Großeltern dabei zu, wie sie Schach oder Risiko spielen. Manchmal darf ich auch eine
Runde spielen, aber ich gewinne nie. Nur dienstags verläuft unser Tag ein wenig anders, weil mein Großvater da das Kreuzworträtsel
für die Lokalzeitung zusammenstellen muss. Am Mittwochmorgen radelt er in die Stadt, um es bei der Redaktion abzugeben. (Er
ist der Ansicht, dass er zu «bequem» wird, wenn er überall mit dem Auto hinfährt.) Auf dem Rückweg kauft er jedes Mal Karamellbonbons,
die wir abends bei der Arbeit essen,deshalb muss ich mir mittwochs vor dem Schlafengehen immer doppelt so lang die Zähne putzen.
Eines Mittwochnachmittags warte ich in der Stadt auf den Bus und freue mich schon auf die Karamellbonbons, als plötzlich zwei
Männer auf mich zukommen. Wahrscheinlich hätte ich sie gar nicht weiter beachtet, wenn ich nicht gehört hätte, wie der eine
beim Näherkommen sagt: «Doch, klar ist das die kleine Butler. Sieh dir nur die Haare an.» Ich überlege, ob ich wegrennen soll,
aber das wirkt nur verdächtig, deshalb bleibe ich tapfer stehen.
«Hallo», sagt der eine Mann zu mir.
Ich gebe keine Antwort. Ist das jetzt gefährlich? Oder sind die beiden vielleicht einfach Freunde meines Großvaters? In der
Schule haben wir gelernt, dass wir keinem Erwachsenen glauben dürfen, der beispielsweise zu uns sagt: «Ich bin ein Freund
deines Vaters. Er hat mich gebeten, dich nach Hause zu bringen.» Ich bin also vorbereitet. Viel Selbstverteidigung kann ich
zwar nicht, aber wenn nötig, trete ich dem Kerl in die Eier.
Der andere macht einen Schritt auf mich zu, und ich weiche instinktiv zurück.
«Mach ihr doch keine Angst», sagt der erste Mann. Dann wendet er sich an mich: «Kümmere dich
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