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PopCo

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Titel: PopCo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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Musiktheorie.»
    «Hat er mehrere Vasen verwendet?», will ich wissen.
    «Wie meinst du das?»
    «Na ja, anstatt immer wieder dieselbe Vase auszuleeren und zu füllen   …»
    «Das stimmt. Das habe ich mir noch nie überlegt, aber du hast natürlich recht. So muss er es wohl gemacht haben.» Mein Großvater
     schaut so erfreut drein wie sonst immer, wenn icheines der vielen Rätsel löse, die er mir aufgibt. Dabei liegt das doch auf der Hand. Wenn ich mir diesen Pythagoras vorstelle,
     sehe ich ihn keinesfalls ganz aufgelöst, mit verrutschten Kleidern und rotem Gesicht damit beschäftigt, verschiedene Füllmengen
     auf ein und derselben Vase zu markieren. Ich sehe ihn ruhig und gelassen vor einer Reihe von Vasen stehen, aufgereiht wie
     die Klangkörper eines Glockenspiels, mit sorgfältig abgemessenem Inhalt, und wunderschöne Musik darauf spielen. Nur eines
     ist mir noch nicht ganz klar.
    «Warum klappt es auch mit einem Drittel?», frage ich.
    Mein Großvater macht sein konzentriertes Gesicht. «Wie bitte?»
    «Du hast gesagt, er hat die Wassermenge immer wieder halbiert. Ein Ganzes, die Hälfte, ein Viertel und so weiter   … Aber warum ein Drittel?»
    «Ach, Alice», sagt er. «Du stellst wirklich gute Fragen.» Er lacht und schaut zu meiner Großmutter hinüber, die ebenfalls
     lächelt. «Das Muster geht so: 1, 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6 und so fort. Die Menge verringert sich also nicht jedes Mal
     um die Hälfte, sondern jeweils um einen ganzzahligen Nenner von eins   …»
    «Einen ganzzahligen   … was?»
    «Bei einem Bruch bezeichnet man die Zahl unter dem Bruchstrich als Nenner», erklärt meine Großmutter. «Und der wird hier jedes
     Mal um eins größer.» Das ist eine richtige Sensation, denn sie hat mir gerade zum ersten Mal etwas erklärt – und auch noch
     versucht, sich halbwegs kindgerecht auszudrücken. In diesem Moment fühle ich mich ihr so nahe wie nie zuvor, und ich nehme
     mir vor, mir von jetzt an große Mühe zu geben, damit ich verstehe, was sie macht, sodass wir immer darüber reden können.
    Im Übrigen würde ich wetten, dass ich diese Riemann’sche Vermutung, was immer das genau ist, beweisen kann. Ich bin mir absolut
     sicher, jedes Problem lösen zu können, wenn ichmir nur genug Mühe gebe. Eines Tages bin ich bestimmt weltberühmt, weil ich irgendein Rätsel oder Geheimnis aufgeklärt habe,
     an dem sich die Erwachsenen schon ewig die Zähne ausbeißen. Das ist mein großer Plan. Manchmal, wenn meine Großmutter arbeitet
     und mein Großvater nicht da ist, gehe ich in die Küche und erfinde Rezepte. Ich bin überzeugt, dass ich eines Tages durch
     Zufall auf eine Zutatenkombination stoßen werde, die mich reich und berühmt macht. Zauberkekse, von denen man fliegen kann.
     Unsichtbarkeitspudding. Schimmelpilze, die Krankheiten heilen. Ich stelle mir vor, wie mir jemand die Riemann’sche Vermutung
     erklärt und mir eine Viertelsekunde später die Lösung ins Gehirn hüpft, als würde sie auf einen fahrenden Zug aufspringen.
    Ich betrachte meine Großmutter, aus deren langem, geflochtenem Zopf sich ein paar Strähnen gelöst haben, und meinen Großvater
     mit seinen hochgekrempelten blauen Hemdsärmeln und sehe, wie sie ein warmes, glückliches Lächeln wechseln. Das Haus ist immer
     noch voll vom schweren, süßen Duft frischgekochter Marmelade, und draußen geht inzwischen die Sonne unter. In etwa fünf Minuten,
     das weiß ich, wird mein Großvater aufstehen und das Licht einschalten, und meine Großmutter wird eine ihrer Platten auflegen,
     wahrscheinlich etwas von Bach. Doch jetzt, während sie ihren Aperitif trinken und einander anlächeln, stelle ich mir vor,
     dass wir alle für immer in diesem Moment des Glücks verharren werden, und ich fühle mich gar nicht mehr schiffbrüchig.
     
    Am nächsten Tag bekommt mein Großvater ein Paket.
    «Aha», sagt er. «Da ist es ja endlich.»
    «Was ist das?», frage ich ihn neugierig. Er strahlt wie an Weihnachten. «Ein Geschenk?»
    «Wie? Nein, kein Geschenk. Aber trotzdem sehr aufregend. Sieh mal.»
    Er zeigt mir ein paar Seiten, die aussehen wie Kopien eines uralten Manuskripts. Ich sehe handgeschriebene Wörter, die ich
     nicht entziffern kann, und seltsame Bilder von Pflanzen, Menschen und Tieren. Irgendetwas daran macht mir ein komisches Gefühl,
     das ich mir nicht erklären kann. Vielleicht, weil ich nichts von dem verstehe, was auf diesen Seiten steht. Es sieht aus,
     als müsste man es verstehen können: die

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