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Poppenspael

Poppenspael

Titel: Poppenspael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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mehr frei.«
    »Das macht
nichts, ich kann stehen.«
    »Na gut, ich
lass Sie rein, ausnahmsweise, aber machen Sie keinen Lärm und
schalten Sie Ihr Handy aus.«
    »Verehrtes
Publikum!«, sagt der Zauberer, indem er seine Stimme
dramatisch hebt. »Wie wir sehen, steckt in meinem Experiment
mit der Kiste ein Geheimnis. Schrödingers Katze lebt, aber sie
lebt gefährlich, besonders in den Köpfen der Physiker,
wenn sich ihre Gedanken zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit
bewegen. Bis jetzt wissen wir noch nicht, ob die Katze in der Kiste
das Experiment überlebt hat.«
    Der Zauberer tritt
hinter die Holzkiste und berührt mit dem Zauberstab die
Klappe, doch nichts passiert.
    »Und Sie
erfahren es auch nicht mit Zauberei, denn solange niemand in die
Kiste schaut, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Katze tot
oder lebendig ist, bei genau 50 Prozent. Sie erinnern sich
hoffentlich noch daran, dass die Quantenmechanik mit
Wahrscheinlichkeiten ganz anders umgeht als der gesunde
Menschenverstand. Die Physiker würden den Zustand der Katze
jetzt als eine kohärente, eine zusammenhängende
Überlagerung beschreiben. Das bedeutet im Klartext, wir haben
es gleichzeitig mit einer halb toten und halb lebendigen Katze zu
tun.«
    Der Zauberer tritt an
den Bühnenrand und lässt seinen Blick demonstrativ
über das Publikum streifen.
    »Ich sehe schon,
Sie stellen sich natürlich alle die Frage: Wie kann eine Katze
gleichzeitig halb tot und halb am Leben sein? Der gesunde
Menschenverstand geht von einer beständigen Wirklichkeit aus,
die Katze ist entweder tot oder sie ist lebendig. Bei einem
quantenmechanischen Experiment entspricht das nicht unbedingt der
Tatsache, dort ist die Katze in einem Sowohl-als-auch-Zustand, am
Leben und zugleich tot, solange wir nicht in die Kiste
gucken.«
    Die
Schrödinger-Puppe in der Hand des Zauberers drängt sich
nach vorn, als wenn sie ihren Spieler ins Abseits stellen will, und
erklärt: »Beobachtungen sind als diskrete,
diskontinuierliche Ereignisse aufzufassen. Dazwischen sind
Lücken, die wir nicht ausfüllen
können.«
    »Das versteht
kein Mensch, Herr Schrödinger«, fällt der Zauberer
der Puppe ins Wort und wendet sich wieder an die
Zuschauer.
    »Also, verehrtes
Publikum, was der liebe Herr Schrödinger Ihnen gerade
mitteilen will, ist Folgendes: Unser Leben verläuft nicht
einfach geradlinig. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie
würden bei diesem Experiment in dieser Kiste sitzen. In einer
Stunde würde ich die Klappe aufmachen und Sie fragen, ob Sie
Ihrer Erfahrung nach in der ganzen Zeit lebendig gewesen sind. Bei
einer ernsthaften Antwort würden Sie die Frage bestimmt
verneinen. Niemand ist sich schließlich jede Sekunde seines
Körpers bewusst. Das heißt, während Ihres
Aufenthalts in der Kiste waren Sie sich nur zeitweise bewusst, dass
Sie am Leben sind, und zwar immer nur dann, wenn Sie selbst Ihren
Körper beachtet, ihn beobachtet haben. Nur in solchem Moment
bricht die bestehende Wellenfunktion zusammen, und Sie haben sich
Gott sei Dank immer für den lebenden Zustand entschieden.
Unbeobachtet existieren Sie in einer Zustandsüberlagerung im
transzendenten Bereich, die sich Ihrer Erfahrung entzieht,
unbeobachtet sind Sie halb tot und halb lebendig.«
    Mit einer schnellen
Bewegung öffnet der Zauberer die Klappe der Kiste, und die
Marionetten-Katze darin macht genussvoll einen
Katzenbuckel.
    »Wir glauben
zwar, wir hätten unser Leben in jeder Sekunde im Griff. Meine
Damen und Herren, ›Schrödingers Katze‹ erinnert
uns an die Grenze dieser Vorstellung. Guten Abend, kommen Sie
lebendig nach Hause.«
    Der Vorhang
fällt, und es wird dunkel im Saal. Ein Moment Stille entsteht,
bis das Publikum das Ende des Stücks realisiert hat. Der
verhaltene Beifall wird von Hauptkommissar Swensen angeheizt, indem
er besonders laut klatscht. Er trägt maßgeblich dazu
bei, dass doch noch ein beachtlicher Applaus aufkommt.
Stühlerücken setzt ein, und in kürzester Zeit bildet
sich eine Menschentraube vor dem Ausgang. Der Hauptkommissar bahnt
sich gegen den Strom einen Weg zur Bühne. An der Seite
entdeckt er eine kleine Holztreppe.
    »Herr Bender!
Hallo! Sind Sie noch da? Ich würde gern mit Ihnen
sprechen!«, ruft der Kriminalist in die Bühnenkulisse,
bevor er hinaufsteigt.
    Der Zauberer im
schwarzen Frack ist im Dunkel kaum zu erkennen. Als er auf Swensen
zugeht, bemerkt der erst, wie jungenhaft das schmale Gesicht mit
den roten Wangen auf ihn wirkt. Der Zylinder, der Bender tief

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